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Es fühlte sich an, als wäre sie in Yvonnes Privatsphäre eingedrungen. Und das, obwohl Yvonne wirklich sehr zurückhaltend mit ihren Angaben gewesen war, nicht nur mit ihren Fotos.

Nachdem Sonny ihr Profil gefunden und zum ersten Mal geöffnet hatte, schloss sie es sofort wieder und fühlte sich beinah etwas peinlich berührt. Was tat sie eigentlich hier? Das war, als ob man sich heimlich an ein Haus heranschleichen und hineinschauen würde, ohne dass die Besitzerin das wusste.

Andererseits waren sich alle, die hier ein Profil erstellten, durchaus dessen bewusst, was sie taten, mussten es sein. Auch Yvonne. Sie hatte Bettina geschrieben und sich dann mit ihr getroffen, weil sie eine Frau suchte. Das war kein Zufall gewesen. Und Bettina vermutlich auch nicht die Einzige.

Es schüttelte Sonny ein wenig, als sie daran dachte. Mit wie vielen Frauen außer Bettina hatte Yvonne sich getroffen? Als ihr klar wurde, was sie da dachte, musste sie jedoch über sich selbst lachen. Sie kannte Yvonne noch nicht einmal und war schon eifersüchtig? Das ging sie doch überhaupt nichts an.

Aber es war eben ein Unterschied, ob man jemanden schon einmal persönlich gesehen hatte oder nicht. Und sie hatte Yvonne definitiv persönlich gesehen, nicht nur auf einem Foto. Sie hatte sie nicht nur gesehen, sondern sich über eine Stunde lang gut mit ihr unterhalten.

Und danach hatte sie Bettina zu ihr ins Hotel gefahren, damit sie mit ihr schlafen konnte . . .

Sonny legte das Handy mit dem Bildschirm nach unten auf den Schreibtisch und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Was tat sie wirklich hier? Sie suchte doch gar keine Frau. Oder doch?

Eine Weile starrte sie nur in die Luft und versuchte, sich selbst zu erkennen, ihre eigenen Absichten. Hätte Bettina sie nicht angerufen und aus dem Bett gezerrt, sie fast gezwungen, mit ihr zum Café am See zu fahren, würde Sonny sich diese Gedanken jetzt nicht machen, das war schon klar.

Auch wenn Sonny allein war, fühlte sie sich nicht einsam. Mit sich selbst war sie nie einsam. Sie fühlte sich auch ohne andere Menschen wohl. Im Gegensatz zu Bettina brauchte sie andere Menschen nicht als Spiegel, als Beweis dafür, dass sie existierte und einen Grund für diese Existenz hatte.

Ohne Bettina, ohne das Erlebnis mit Yvonne wäre Sonny nie auf den Gedanken gekommen, sich eine Dating-App herunterzuladen. Sie hätte keinen Bedarf dafür gehabt.

Ohne das Erlebnis mit Yvonne . . . Was für ein Erlebnis? Ein Gespräch? Oder war es Yvonnes erster Anblick gewesen, der sie schon ein bisschen umgehauen hatte?

Sie hatte das damals ausgeblendet, weil sie ja nur wegen Bettina da gewesen war. Es ging um Bettinas Bedürfnisse, nicht um ihre eigenen. Aber eine Frau wie Yvonne sah man wirklich nicht alle Tage.

Erneut nahm sie das Handy zur Hand und öffnete Yvonnes Profil wieder. Auf eine Art war es interessant, wie wenig diese Fotos ihr glichen. War das Absicht?

Ja, natürlich war das Absicht. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Yvonne hätte genauso gut zumindest ein Foto von sich einstellen können, auf dem sie so aussah, wie sie am Samstag ausgesehen hatte. Aber das hatte sie nicht getan.

Warum? Wer war sie tatsächlich? Die Frau auf diesen Fotos oder die Frau, mit der Sonny sich am Samstag so angenehm unterhalten hatte? Oder beide? Waren das die beiden Seiten ihrer Persönlichkeit, wie die zwei Seiten einer Medaille?

Oder hatte Yvonne ein Problem mit ihrer Selbstdarstellung? Wusste sie nicht genau, wie sie gesehen werden wollte? In einem Kennenlernportal wie diesem hier stellte sie sich auf die eine Art dar, in einer persönlichen Begegnung auf eine andere? Weil sie nicht wusste, wer sie war?

Nein, das war absurd. Erneut schüttelte Sonny den Kopf, diesmal ziemlich verärgert über ihre eigenen Gedanken, über sich selbst.

Diesen Eindruck, den einer quasi gespaltenen Persönlichkeit voller Unsicherheiten, hatte Yvonne überhaupt nicht gemacht. Sie war eine mehr als erwachsene Frau mit einer sehr ausgeglichenen, in sich ruhenden Ausstrahlung. Einer faszinierenden Ausstrahlung . . .

Sonny kehrte zu ihrem eigenen Profil zurück und überprüfte, was sie dort eingetragen hatte. Noch nicht viel. Sie hatte es nur angelegt, um das von Yvonne zu suchen. Statt eines Namens hatte sie lediglich Initialen angegeben. Nicht einmal ihre eigenen, sondern die ersten beiden Buchstaben des Alphabets A. B.

Angela Baumgarten. Das würde dazu passen. Es klang wie ein echter, glaubwürdiger Name.

Was machte sie denn da? Versteckte sie sich? Stand sie nicht dazu, was sie hier tat?

Wieder ließ sie das Handy sinken. Genau das war das Problem. Was tat sie hier?

Sie suchte keine Frau, also warum sollte sie ihren richtigen Namen angeben? Sie hatte nur einmal in diese Welt hineinschauen wollen, die sie nicht brauchte.

Dann konnte sie ihr Profil aber jetzt auch einfach wieder löschen und dieses Abenteuer beenden, bevor es richtig angefangen hatte. Sie musste nicht über einen Namen nachdenken, der zu den zufällig ausgewählten Initialen passte. Sie musste sich nicht als jemand ausgeben, der sie nicht war. Das hatte sie doch noch nie getan.

Doch sie saß vor diesem Gerät, das mittlerweile für alle den Zugang zur Welt darstellte, ohne das niemand mehr leben konnte, und starrte auf den kleinen Bildschirm, konnte sich nicht entscheiden. Denn im Augenblick war das nicht das Tor zur Welt, sondern das Tor zu Yvonne.

Sie hätte Bettina um Yvonnes Nummer bitten können oder darum, Yvonne Sonnys Nummer zu geben, sodass Yvonne selbst entscheiden konnte, ob sie sie anrufen wollte oder nicht.

Aber wie hätte das ausgesehen? Sie wollte Bettina doch nicht die Freundin abspenstig machen.

War Yvonne Bettinas Freundin? Als Nächstes traf Bettina sich jetzt mit Astrid, danach vielleicht noch mit anderen. Nein, nicht nur vielleicht. Ganz sicher.

Und Yvonne? Mit wem traf sie sich? War sie derselbe Typ wie Bettina, der nicht mit sich allein sein konnte? Dann konnten es viele sein, mit denen sie sich traf. Warum sonst hätte sie sich auf einem Datingportal anmelden sollen?

Bei einer Frau, die aussah wie Yvonne, die auch persönlich eindrucksvoll und ansprechend erschien wie Yvonne, würden viele sich näher für sie interessieren. Selbst wenn es nicht Bettina war, Yvonne würde schnell jemanden finden oder von jemandem gefunden werden.

Von vielen. Ja, viele, viele . . .

Sonny fühlte sich hin- und hergerissen. Sie öffnete Yvonnes Profil erneut und starrte eine ganze Weile stumm auf das Bild, das sie als Avatar gewählt hatte.

Dann kehrte sie zu ihrem eigenen Profil zurück und wählte Bearbeiten.

Angela Baumgarten tippte sie.

Doch. Sah gut aus, der Name.

Und was für ein Bild sollte sie nehmen? Nahm sie ihr eigenes, würde Yvonne sie trotz des anderen Namens sofort erkennen, sofern sie über Sonnys Profil stolperte. Dann konnte Sonny auch gleich ihren richtigen Namen angeben.

Doch die Technik bot heutzutage ja so viele Möglichkeiten. Künstliche Intelligenz war das Gebot der Stunde.

Zwar hatte Sonny sich bisher noch nicht so richtig damit beschäftigt, aber warum nicht das hier zum Anlass nehmen, es endlich einmal zu tun?

Schnell fand sie heraus, dass es sehr einfach war, Bilder und Avatare zu erstellen. Man musste nur ein paar Daten angeben, Alter, Geschlecht, Haarfarbe, und die künstliche Intelligenz war tatsächlich in der Lage, ein täuschend echtes Profilbild zu erstellen, das wie ein Foto aussah.

Ruth Gogoll: Liebe, Lüge, Leidenschaft

1 »Du bist eine süße Frau.« »Ich bin eine starke Frau.« Sonny lächelte. »Eine starke Frau, aber...
»Na du? Ist dein Frauchen noch nicht fertig?« »Gleich!« Das kam aus dem Bad. Dass gleich bei...
Sonny konnte aber auch einfach nach Hause fahren und Bettina ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn...
»Niemals!« Das klang so überzeugt, dass man es Bettina beinah hätte glauben können. »Ich versinke...
»Nett ist nicht der richtige Ausdruck.« Bettina gluckste. »Wirklich nicht. Sie ist –« »Schon gut«,...
»Ich bin nicht gern allein«, begründete Bettina das mit einem etwas trotzigen Ausdruck im Gesicht....
Langsam nickte Bettina, als hätte sie schon dasselbe gedacht. »Während wir per Video telefoniert...
Dann hatte sie auf die Uhr gesehen. »Ich würde sagen, sie kommt nicht mehr«, hatte sie ganz...
8 Es fühlte sich an, als wäre sie in Yvonnes Privatsphäre eingedrungen. Und das, obwohl Yvonne...
Auch andere Bilder konnte man so erstellen lassen. Eine Frau am Meer oder in den Bergen, lachend...
War das jetzt der Grund, dass sie es wieder tat? Heute war doch alles anders. Wie oft jetzt...
Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus. Die Intimität und Nähe, die Sonny gespürt hatte, hatte...