»Nett ist nicht der richtige Ausdruck.« Bettina gluckste. »Wirklich nicht. Sie ist –«

»Schon gut«, unterbrach Sonny sie schnell. »Meine Mittagspause ist vorbei. Ich muss zurück. Lass uns später darüber reden.«

Lieber nicht, dachte sie, aber sie wusste selbst nicht so genau, warum.

»Kommst du?« Ein Kollege, der gleich zwei Kaffeebecher zum Mitnehmen in den Händen hielt, blieb kurz vor ihrem Tisch stehen. »Das Meeting fängt gleich an.«

»Ist es schon zwei?« Etwas verdutzt blickte Sonny zu ihm hoch.

»In fünf Minuten«, sagte er. »Bis wir drüben sind . . .«

»Ja, natürlich.« Sonny stand viel zu überhastet auf, wenn man bedachte, dass es nur um ein langweiliges Meeting ging.

Gleichzeitig beendete sie den Anruf mit Bettina und stellte ihr Handy auf Nicht stören. Nun konnte sie niemand mehr erreichen. Obwohl sie gerade erst ihre Mittagspause hinter sich hatte, hatte sie das Gefühl, sie müsste sich ausruhen.

Ihr Kollege Marco schlenderte schlaksig mit seinen beiden Kaffeebechern neben ihr her. Er war so um die zehn Jahre jünger als Sonny, wirkte aber manchmal immer noch wie ein großer Junge.

»Magst du?«, fragte er und bot ihr einen der Becher an.

Lächelnd schüttelte Sonny den Kopf. »Danke, ich hatte gerade.«

»Ich auch.« Er grinste. »Aber im Meeting gibt es ja nur wieder dieses Schlabberwasser, das Frau Steinhauer kocht.«

Sonny lachte. »Dass dein Herz das aushält . . . Den ganzen Tag über doppelter Espresso.«

»Mein Herz hält vieles aus.« Sein jungenhaftes Grinsen blieb. »Bloß kein Schlabberwasser.«

»Was macht dein Projekt?«, fragte Sonny.

Er nickte ganz zufrieden. »Geht voran.« Er seufzte. »Wenn die oberste Etage nur mal verstehen würde, dass das Geld kostet.«

»Ich sitze in der obersten Etage«, sagte Sonny. »Und ich verstehe das.«

»Dich habe ich doch nicht gemeint.« Leicht aufgeschreckt schaute er sie an. »Du weißt schon, wen ich meine.«

»Weiß ich.« Sonny nickte. »Vielleicht begreift sie es ja heute im Meeting.«

»Sie ist einfach technikfeindlich.« Marcos Mundwinkel kräuselten sich genervt. »Hat selbst keine Ahnung davon und meint, das braucht man alles nicht.«

»Nächstes Jahr geht sie in Rente.« Mit einem zuversichtlichen Lächeln hielt Sonny ihm die Tür auf, damit er mit seinen beiden Kaffeebechern hindurchgehen konnte. »Dann kommt jemand Jüngeres.«

»Hoffentlich jemand, der ein bisschen mehr von Technik versteht.« Er rollte die Augen. »Am liebsten soll alles auf dem neuesten Stand sein und funktionieren, aber nichts kosten.«

»So ist es doch immer«, sagte Sonny. »Und in einem mittelständischen Unternehmen wächst das Geld leider nicht auf den Bäumen.«

»Ich dachte, dafür seid ihr im Controlling zuständig. Ihr zieht das dort in Brutkästen.« Er lachte.

»Wenn ich das könnte, wäre ich schon längst nicht mehr hier.« Sonny lachte auch. »Dann hätte ich eine Jacht im Mittelmeer und würde nie mehr zurückkommen.« Sie hielt ihm die letzte Tür auf, damit er seinen Kaffee im Konferenzzimmer abstellen konnte. »Aber vielleicht schaffen wir ja heute die Quadratur des Kreises.«

Skeptisch sah er sie an. »Seit wann haben Meetings dabei geholfen? Alles nur Zeitverschwendung.«

Da musste Sonny ihm prinzipiell zustimmen, aber das sagte sie nicht. »Ich hole nur meine Sachen«, sagte sie stattdessen, schloss die Tür und ging mit schnellen Schritten in ihr Büro.

Sie wäre lieber dort geblieben und hätte Arbeit erledigt, statt jetzt zwei Stunden in einem Meeting zu sitzen, das vermutlich nicht viel brachte, aber auch wenn sie als Abteilungsleiterin in der obersten Etage saß, bedeutete das nicht, dass sie sich das aussuchen konnte.

Seit sie vor vielen Jahren Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, hatte sie Karriere gemacht, das musste sie zugeben, aber die oberste Leitung eines mittelständischen Familienunternehmens lag meistens in der Hand eines Familienmitglieds. So war es auch in diesem Unternehmen. Mit der jetzigen Chefin würde jedoch das letzte Familienmitglied in einer direkten Führungsposition verschwinden. Nächstes Jahr würde das dann wohl ein Manager übernehmen. Oder eine Managerin.

Dann würde sich vermutlich vieles ändern, auch das Verständnis für Technik, das Marco sich so sehr wünschte. Es war erstaunlich, wie man auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch an Bleistift und Papier hängen konnte, wenn man aus dem zwanzigsten, aus der Mitte des zwanzigsten, stammte.

Das war aber nicht Sonnys Problem. Ihren Job hatte sie im Griff und machte ihn gern. Zahlen waren immer schon etwas gewesen, das sie liebte.

Zahlen waren allerdings auch viel einfacher als Menschen. Zahlen waren eindeutig. Eine Statistik konnte man schnell beurteilen und seine Schlüsse daraus ziehen.

Bei Menschen war das etwas ganz anderes. Wie beurteilte man beispielsweise eine Frau wie Yvonne? Wie konnte man sie einschätzen?

Sonny hatte ihre ausgedruckten Unterlagen – für die technikfeindlichen älteren Mitglieder des Managements – und ihren Laptop schon in der Hand und blieb plötzlich stehen.

Yvonne hatte sie nicht zu interessieren. Sie war Bettinas Freundin. Warum dachte Sonny überhaupt über sie nach? Sie hatte sie nur zufällig kennengelernt. Weder Yvonne noch sie, Sonny, hatten ein Treffen miteinander vereinbart.

Dass sie dort im Café am See über eine Stunde zusammen am Tisch gesessen und gefrühstückt hatten – das hieß, Yvonne hatte gefrühstückt und Sonny hatte ihr dabei zugesehen, während sie ihren letzten Kaffee trank –, war nur der Tatsache zu verdanken, dass Bettina zu feige gewesen war, Yvonne von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Und doch war es ein denkwürdiges Ereignis gewesen. Ein Ereignis, mit dem Sonny nicht im Entferntesten gerechnet hatte.

Denn diese Stunde war eine der schönsten ihres Lebens gewesen.

5

»Meinst du, ich soll den anderen absagen?«

Entgeistert starrte Sonny Bettina an. »Ist das eine ernsthafte Frage?«

Entscheidungsschwach, wie sie war, zog Bettina ein wenig den Kopf zwischen die Schultern. »Eigentlich ist das doch unfair. Ich habe die meisten noch nicht einmal persönlich gesehen.«

»Die meisten?« Sonnys Augenbrauen hoben sich verwundert an.

»Na ja, mit Astrid habe ich zumindest schon einmal per Video telefoniert«, erklärte Bettina leicht eingeschüchtert. »Mit den anderen nur geschrieben.«

»Astrid? Wer ist Astrid?« Zwar hatte Sonny nicht erwartet, dass sie bei Bettinas vielen Kontakten je durchblicken würde, aber nach dem letzten Wochenende, dem Sonntag mit Yvonne, hatte sie irgendwie angenommen, dass Bettinas Suche beendet sein müsste.

»Eine Frau, die auf meine Kontaktanzeige geschrieben hat.« Bettinas Stirn runzelte sich so, als ob sie sich wunderte, dass Sonny sie danach fragte. »Genauso wie die anderen.«

»Genauso wie Yvonne?«, fragte Sonny mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja.« Bettina nickte. »Genauso wie Yvonne. Insgesamt waren es sechs bis jetzt.«

»Und mit all denen willst du dich noch treffen?« Sonny konnte es nicht glauben.

Für Bettina schien das jedoch außer Frage zu stehen. »Ich muss ihnen doch eine Chance geben«, behauptete sie ganz selbstverständlich. »Ich konnte mich ja nicht mit allen gleichzeitig treffen. Eine musste die erste sein.«

»Und das war Yvonne«, murmelte Sonny.

»Ja, das war Yvonne«, bestätigte Bettina.

Sonny konnte es immer weniger fassen. »Ich dachte, ihr hattet einen schönen Sonntag zusammen.«

»Hatten wir auch.« Bettina lächelte. »Einen sehr schönen Sonntag.«

Unvermittelt fühlte Sonny einen Schauer durch ihren Körper fahren, als Bettina das sagte. Verzweifelt versuchte sie, irgendwelche Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben, die sich dort hineindrängen wollten. Bilder von Yvonne und Bettina. Im Bett. Nackt.

»Aber das reicht dir nicht«, stellte sie fest. »Du musst die anderen auch noch haben.«

Schmollend verzog Bettina die Lippen. »Das hört sich an, als ginge es mir nur um Sex.«

Sonny atmete tief durch. »Ich habe mich schon manchmal gefragt, worum es dir eigentlich geht. Du hast so viele Kontakte . . .«

Ruth Gogoll: Liebe, Lüge, Leidenschaft

1 »Du bist eine süße Frau.« »Ich bin eine starke Frau.« Sonny lächelte. »Eine starke Frau, aber...
»Na du? Ist dein Frauchen noch nicht fertig?« »Gleich!« Das kam aus dem Bad. Dass gleich bei...
Sonny konnte aber auch einfach nach Hause fahren und Bettina ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn...
»Niemals!« Das klang so überzeugt, dass man es Bettina beinah hätte glauben können. »Ich versinke...
»Nett ist nicht der richtige Ausdruck.« Bettina gluckste. »Wirklich nicht. Sie ist –« »Schon gut«,...
»Ich bin nicht gern allein«, begründete Bettina das mit einem etwas trotzigen Ausdruck im Gesicht....
Langsam nickte Bettina, als hätte sie schon dasselbe gedacht. »Während wir per Video telefoniert...
Dann hatte sie auf die Uhr gesehen. »Ich würde sagen, sie kommt nicht mehr«, hatte sie ganz...
8 Es fühlte sich an, als wäre sie in Yvonnes Privatsphäre eingedrungen. Und das, obwohl Yvonne...
Auch andere Bilder konnte man so erstellen lassen. Eine Frau am Meer oder in den Bergen, lachend...
War das jetzt der Grund, dass sie es wieder tat? Heute war doch alles anders. Wie oft jetzt...
Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus. Die Intimität und Nähe, die Sonny gespürt hatte, hatte...