Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus. Die Intimität und Nähe, die Sonny gespürt hatte, hatte Bianca keinesfalls gespürt. Sie war auf etwas ganz anderes konzentriert gewesen.

Das war Sonny jedoch egal. Bei manchen Veranstaltungen an der Uni hatte sie direkt neben Bianca auf dem nächsten Stuhl gesessen, und ihr Herz hatte wie eine Buschtrommel bis zum Hals geschlagen, in ihrem Kopf hatte es gerauscht wie ein Wasserfall. Von der Veranstaltung hatte sie eigentlich nichts mitgekriegt.

Selbst wenn Bianca begeisterte politische Vorträge in so einer Veranstaltung hielt, hätte Sonny später nicht wiederholen können, was sie gesagt hatte. Sie hatte nur auf ihren Mund geschaut, auf die gar nicht einmal so vollen Lippen, die aber ständig zu sprudeln schienen und die sie so gern geküsst hätte.

Doch nicht nur Biancas Lippen hatten sie magnetisch angezogen. Manchmal hatte Sonny Biancas ganzen Körper betrachtet, von oben bis unten. Wie er sich bewegte, wenn Bianca erregt sprach und andere zu überzeugen versuchte.

Es ging dann beinah eine Art von Elektrizität von ihr aus. Hochspannung.

Eine Spannung, die sich auf Sonny übertrug. Nur dass es in ihr eine Art von Erregung erzeugte, die vermutlich nicht mit der von Bianca zu vergleichen war.

Bianca erregte die Politik. Sonny erregte Bianca. Sie hätte sie gern einmal an einem anderen Ort so erregt erlebt.

Allein zu zweit. Nur Sonny und Bianca und sonst nichts. Noch nicht einmal Kleidung.

Sie seufzte. Das war lange her und konnte keine Bedeutung mehr haben. Was einzig und allein noch eine Bedeutung hatte, war das Hier und Jetzt.

Und in diesem Hier und Jetzt war Sonny durchaus glücklich. Sie hatte es aufgegeben, den Frauen nachzujagen, und war dafür lieber ihrer Karriere nachgejagt. Das war eine wesentlich aussichtsreichere Jagd. Und eine erheblich einfachere.

Auch beruflich voranzukommen war anstrengend, aber lange nicht so anstrengend wie eine Frau von der Liebe zu überzeugen, die überhaupt nicht davon überzeugt werden wollte. Oder manchmal auch nicht konnte. Weil sie gar nicht wusste, was Liebe war.

Vielleicht hatte Sonny es auch nie wirklich gewusst, dachte sie bisweilen. Wenn sie eine Frau sah, die ihr gefiel, hatte ihr Körper reagiert, und oft hatte sie sich dann verliebt. Hatte Verliebtheit vermutlich für Liebe gehalten.

Aber ob es wirklich Liebe gewesen war oder nur die Lust auf Sex mit dieser Frau? Die Lust darauf, ihren Körper zu spüren, ihr Stöhnen zu hören, ihre Wärme Haut an Haut für eine Weile genießen zu können? Wer konnte das schon sagen?

Sonny hatte nie eine Frau gefunden, bei der sie da hätte sicher sein können. Ihre längste Beziehung – wenn man das so nennen konnte – hatte sechs Jahre gedauert. Und sie hatten noch nicht einmal zusammen gewohnt. Im Grunde hatte jede ihr eigenes Leben weitergelebt wie zuvor.

Sie waren miteinander essen gegangen oder in ein Konzert, hatten miteinander geschlafen, waren ein paarmal zusammen in Urlaub gefahren.

Bis Sonny Konstanze dann bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub abends im Zimmer einer anderen Frau verschwinden sah. Mitten in der Nacht kam sie in Sonnys und ihr Doppelzimmer zurück und roch nach der anderen, als sie sich neben Sonny ins Bett legte.

Danach hatte es nicht mehr lange gedauert, bis sie sich getrennt hatten. Vermutlich war Konstanze dann eine ebenso beiläufige Beziehung mit jener Frau eingegangen, das wusste Sonny noch nicht einmal.

Es war jedenfalls gut gewesen, dass sie nie wirkliche Intimität miteinander geteilt hatten, nur manchmal das Bett. So hatte Sonny zwar ein wenig gelitten, aber wohl mehr, weil sie sich im Laufe der Jahre irgendwie an Konstanze gewöhnt hatte. Ein paar Wochen lang ertappte sie sich immer noch dabei, wie sie Konstanze anrufen wollte, um ihr etwas zu erzählen, was am Tag passiert war. Aber dann war auch das vorbei.

Sie blickte auf ihren Handybildschirm. Es war dieselbe Unverbindlichkeit, die sie schon kannte, die ihr daraus entgegenstrahlte. Eigentlich war das doch genau das, was sie suchte, was sie gewöhnt war.

Also entsperrte sie den Bildschirm und versank in Yvonnes Bildern.

10

»Ich muss dir was erzählen!« Bettinas aufgeregte Stimme riss Sonny aus einem drögen Tag, nach dem sie einen genauso drögen Abend erwartet hatte.

Ehrlich gesagt hatte sie sich deshalb überlegt, im Büro zu bleiben, um die Bilanzierung abzuschließen. Der Termin rückte immer näher, an dem sie die Bilanz präsentieren musste.

Um sie herum war es ruhiger und ruhiger geworden, während einer nach dem anderen Feierabend machte, und sie hatte gar nicht gemerkt, dass es schon fast Mitternacht war, als plötzlich ihr Handy fordernd ihre Aufmerksamkeit verlangte.

»Jetzt? Mitten in der Nacht?«, fragte sie in die Kamera hinein, während sie Bettinas etwas zerstruweltes Bild auf dem Display sah. Nein, das Bild war nicht zerstruwelt, Bettina war es. Ihr Haar sah aus, als hätte sie an einer Steckdose gehangen. Es stand in alle Richtungen.

»Du bist schließlich noch wach, oder?« Bettinas Augen blitzten übermütig.

Das konnte Sonny nicht abstreiten. »Ja, ich bin sogar noch im Büro«, gab sie zu. »Also meinetwegen . . .«

»Du bist noch im Büro? Bist du wahnsinnig?« Weit aufgerissene Augen füllten fast den ganzen Bildschirm aus, als Bettina sie entgeistert anstarrte. »Um diese Zeit?«

»Die Bilanzierung steht an«, erklärte Sonny kurz angebunden. »Also? Was willst du?«

»Gar nichts«, erwiderte Bettina beinah etwas verträumt. »Ich bin nur gerade bei Astrid –«

»Bitte keine Details!«, unterbrach Sonny sie. »Das hat doch bestimmt auch Zeit bis morgen.«

Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass Bettina ihr von Astrid vorschwärmte und damit alle Zahlen in Sonnys Kopf durcheinanderbrachte, die sie in den vergangenen Stunden so gut geordnet hatte.

»Spaßverderberin«, brummelte Bettina mit schmollend vorgeschobenen Lippen.

»Also gut . . .« Sonny seufzte. »Was ist denn?«

Sofort schnappten Bettinas Lippen wieder zurück, und ein breites Lächeln überzog ihr Gesicht. »Bisher war sie ja immer bei mir«, setzte sie an. »Aber heute bin ich zu ihr gefahren.«

»Ich weiß?« Hatte Bettina nicht etwas Neues erzählen wollen, etwas, das Sonny noch nicht wusste?

»Na ja, ich dachte natürlich, sie wohnt allein«, sprach Bettina weiter. »Sie hat nie was davon gesagt, dass sie sich ihre Wohnung mit jemandem teilt.«

»Aber das tut sie?« Was wollte Bettina ihr eigentlich mitteilen? Das waren doch wirklich keine weltbewegenden Neuigkeiten. Sonny schüttelte innerlich den Kopf. Sie hätte das Gespräch gar nicht erst annehmen sollen.

»Ja, das tut sie.« Ganz nah beugte Bettina sich zur Kamera vor, sodass Sonny fast nur noch ihre Nasenspitze sah. »Sie wohnt hier mit ihrer Freundin.«

»Wie?« Sonny stutzte. »Ich dachte, sie war in der App, weil sie allein ist und jemanden sucht.«

»Das dachte ich auch.« Bettina lehnte sich wieder zurück, sodass Sonny sehen konnte, dass sie anscheinend im Bad war. »Aber manchmal«, sie grinste, »sind zwei besser als eine.«

Ihr Grinsen war so ausdrucksstark, dass Sonny ganz entschieden das Gefühl hatte, dass Bettina sie unbedingt um diese normalerweise nachtschlafende Zeit hatte anrufen müssen, weil da etwas aus ihr herauswollte, das sie nicht länger für sich behalten konnte. »Verstehe ich dich richtig?«, fragte sie verdutzt. »Sie und ihre Freundin –?«

»Hmhm.« Heftig nickte Bettina mit dem Kopf. »Alle beide. Und ich lag in der Mitte.« Sie verzog anzüglich die Lippen. »Wenigstens am Anfang.«

»Junge, Junge.« Amüsiert lachte Sonny auf. »Und das mitten in der Woche.«

»Jupp.« Genüsslich legte Bettina den Kopf zurück. »Mich in dieser App anzumelden war die beste Idee meines Lebens.«

Unwillkürlich fragte Sonny: »Hattest du am Anfang da auch so viele . . . hm . . . merkwürdige Anfragen?«

»Ach das.« Bettina winkte ab. »Ja, die stürzen sich auf jede, die sich neu –« Abrupt unterbrach sie sich selbst. »Woher weißt du das denn?«

ENDE DER FORTSETZUNG

Ruth Gogoll: Liebe, Lüge, Leidenschaft

1 »Du bist eine süße Frau.« »Ich bin eine starke Frau.« Sonny lächelte. »Eine starke Frau, aber...
»Na du? Ist dein Frauchen noch nicht fertig?« »Gleich!« Das kam aus dem Bad. Dass gleich bei...
Sonny konnte aber auch einfach nach Hause fahren und Bettina ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn...
»Niemals!« Das klang so überzeugt, dass man es Bettina beinah hätte glauben können. »Ich versinke...
»Nett ist nicht der richtige Ausdruck.« Bettina gluckste. »Wirklich nicht. Sie ist –« »Schon gut«,...
»Ich bin nicht gern allein«, begründete Bettina das mit einem etwas trotzigen Ausdruck im Gesicht....
Langsam nickte Bettina, als hätte sie schon dasselbe gedacht. »Während wir per Video telefoniert...
Dann hatte sie auf die Uhr gesehen. »Ich würde sagen, sie kommt nicht mehr«, hatte sie ganz...
8 Es fühlte sich an, als wäre sie in Yvonnes Privatsphäre eingedrungen. Und das, obwohl Yvonne...
Auch andere Bilder konnte man so erstellen lassen. Eine Frau am Meer oder in den Bergen, lachend...
War das jetzt der Grund, dass sie es wieder tat? Heute war doch alles anders. Wie oft jetzt...
Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus. Die Intimität und Nähe, die Sonny gespürt hatte, hatte...