Sonny konnte aber auch einfach nach Hause fahren und Bettina ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn sie gemeinsam in Sonnys Auto gekommen waren, konnte Bettina sich ja ein Taxi rufen. Oder die Frau in Blau würde sie mitnehmen, wenn Bettina sich endlich dazu entschloss, zu dieser Einladung zu stehen.

Vielleicht musste Bettina sich nur beruhigen. Dann würde sie zurückkommen und an den Tisch gehen, an dem die Frau saß, ihr enthüllen, wer sie war, und sie würden darüber lachen, wie Bettina auf dem Bild aussah, das sie der Frau geschickt hatte. Und dass sie sich in Wirklichkeit schließlich auch nicht verstecken musste.

Dann konnte Sonny gehen und sie sich selbst überlassen.

Sie wartete, trank noch einen Kaffee, stocherte ein wenig in den Resten auf ihrem Teller herum, sammelte jeden einzelnen Krümel mit der Fingerspitze auf . . .

Bettina kam nicht zurück. Nichts geschah.

Immer wieder wanderte Sonnys Blick zu der Frau hinüber, die ein schickes hellblaues Kostüm trug, das genauso frühlingshaft aussah, wie dieser Frühlingstag sich anfühlte.

Sie schaute sich immer wieder um, blickte zur Tür, trank ihren Kaffee, den sie sich mittlerweile besorgt hatte, und wirkte ebenso unentschlossen wie Sonny.

Eine halbe Stunde war vergangen, seit Bettina sich verdrückt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zurückkommen würde, sank immer mehr.

Die Frau war jedenfalls geduldig, dachte Sonny. Nun ja, vielleicht hatte sie eine längere Fahrt hinter sich, und eine halbe Stunde bedeutete dagegen nichts.

Dann musste sie aber schon gestern Abend gekommen sein, denn dieses Kostüm sah nicht so aus, als hätte sie darin Stunden im Auto verbracht. Und ihr Gesicht sah nicht nach einer durchgefahrenen Nacht aus.

Es sah . . . nett aus. Attraktiv, ja, aber vor allen Dingen nett.

Etwas länger verharrte Sonnys Blick auf der Frau. Und sie bemerkte es.

Leise begann sie zu lächeln.

Oh mein Gott, was für ein Lächeln! Sonny erschlug es fast. Sie blickte zum Fenster.

Aber jetzt konnte sie sich nicht mehr drücken. Sie war ja schließlich nicht Bettina.

Und eigentlich ging sie das ja alles auch gar nichts an.

Indem sie ihren Blick zurückwandte und die Frau ansah, allerdings ohne zu lächeln, stand sie auf und ging zu ihr hinüber.

»Bettina?«, begrüßte sie eine dunkle, etwas fragende Stimme, als sie dort ankam.

Der Gesichtsausdruck der Frau wirkte leicht unsicher. Sonny sah nicht im Entferntesten wie Bettina aus, noch nicht einmal auf einem Jugendfoto.

»Leider nein«, erwiderte sie mit bedauernder Miene. »Sonja. Ich bin Bettinas Freundin.«

»Oh.« Die Frau wirkte verblüfft.

»Nicht so eine Freundin.« Sonny lachte. »Ihre beste Freundin. Sie hat mich mit hierhergeschleppt, weil sie dich . . . Sie . . . nicht allein treffen wollte. Sie hatte Angst.«

»Du kannst ruhig du sagen. Ist einfacher.« Das Lächeln, das sich schon ein paar Minuten zuvor auf ihrem Gesicht aufgebaut hatte, erstrahlte erneut.

Das Lächeln passte gut zu ihrer Stimme, und ihre Stimme passte gut zu ihrem Lächeln. Das hellblaue Kostüm passte zu beidem. Es war alles sehr stimmig.

»Und jetzt hat sie dich geschickt, um mir abzusagen?«, fragte die Frau. »Oder nur, um mal vorzufühlen, ob ich es wert bin?« Sie schmunzelte.

Die Frau hat Humor, dachte Sonny und lächelte, weil sie das Lächeln der anderen dazu veranlasste. »Weder noch.« Sie zuckte die Schultern. »Sie ist einfach mit Flipflop verschwunden.«

»Flipflop?«

»Ihr Hund. Du hast ihn bestimmt gesehen. Man kann ihn kaum übersehen. Er ist groß.« Sonny blickte zur Eingangstür, durch die Bettina verschwunden war. »Und kein Er«, fügte sie hinzu. »Es ist eine Hündin.«

Der Blick der Frau in Blau folgte ihrem. »Ach? Das war sie?«

»Ja, das war sie.« Sonny seufzte. »Tut mir leid. Ich dachte, sie kommt zurück, aber wahrscheinlich hockt sie da draußen und traut sich nicht.«

»Ist sie so ängstlich?« Bettinas versetztes Rendezvous hob erstaunt die Augenbrauen. »Den Eindruck hatte ich bisher nicht von ihr. Wir haben uns ja schon einiges geschrieben.«

Sonny zuckte die Achseln. »Ich verstehe es auch nicht. Normalerweise ist sie die, die zuerst losstürmt. Ich muss sie oft zurückhalten, damit sie nichts Dummes tut.«

»Dann muss ich ihr wohl nicht gefallen haben.« Die Frau seufzte. »Dafür bin ich nun sechs Stunden gefahren.«

Lange Anfahrt. Dachte ich’s doch. Hier in der Stadt wäre sie mir bestimmt aufgefallen.

Auf einmal begannen Sonnys Mundwinkel ganz von selbst zu zucken. »Ich glaube, du hast ihr zu gut gefallen. Du hast sie umgehauen. Sie findet dich sehr attraktiv.«

»So attraktiv, dass sie wegläuft?« Eine Weile saß die andere da und überlegte. »Dann hat es wohl keinen Sinn.« Sie blickte zum Buffet hinüber. »Aber jetzt habe ich wirklich Hunger.« Mit leicht angehobenen Augenbrauen – sorgfältig gezupften Augenbrauen – schaute sie zu Sonny hoch. »Du würdest nicht vielleicht mit mir brunchen?«

Bedauernd hob Sonny die Schultern. »Leider habe ich das schon. Mit Bettina.«

»Schade«, sagte die Frau in Blau. »Dann muss ich wohl allein frühstücken.«

Irgendetwas in Sonny schien das nicht zu wollen, denn fast, ohne dass sie es merkte, sagte sie: »Einen Kaffee könnte ich noch mittrinken.«

Auf dem Gesicht der Frau breitete sich wieder dieses bezaubernde Lächeln aus. »Das würde mich freuen«, erwiderte sie mit so viel Charme, dass es Sonny immer verständlicher wurde, warum Bettina verschwunden war. Das konnte eine schon umhauen. »Ich bin übrigens Yvonne.« Während sie aufstand, streckte sie Sonny die Hand hin.

»Sonny«, sagte Sonny, als sie diese Hand nahm. »Mich nennen alle Sonny.«

3

»Du hast mit ihr gefrühstückt!« Allertiefste Empörung färbte Bettinas Stimme.

»Weil du dich verdrückt hast, meine Liebe.« Sonny ließ sich von Bettinas sowieso nur gespielter Empörung nicht die Butter vom Brot nehmen. »Hätte ich sie so da sitzen lassen sollen, wie du sie sitzengelassen hast?« Strafend blickte sie Bettina an. »Feigling.«

»Ich habe sie doch nicht sitzengelassen.« Während sie die Lippen schmollend verzog, spielte Bettina mit Flipflops Leine in ihrer Hand. Flipflop sprang auf der Wiese herum und hatte viele Freunde und Freundinnen gefunden, mit denen sie ihre unbändige Energie austoben konnte.

»Ach? Und wie nennst du das?« Sonny ging weiter neben ihr her. »Eine halbe Stunde habe ich – haben wir, muss man ja wohl sagen – auf dich gewartet, bevor ich zu ihr rübergegangen bin. Ich wollte nicht einfach so gehen. Das fand ich unhöflich.«

»Du hattest dich ja nicht mit ihr verabredet.« Immer noch spielte Bettina die Beleidigte. Als ob Sonny ihr etwas angetan hätte.

»Nein, du«, bestätigte Sonny mit einem erneut tadelnden Gesichtsausdruck und dem dazu passenden Tonfall in der Stimme. »Es war deine Unhöflichkeit, die ich ausbügeln musste.«

»Sie ist so ein Hingucker«, versuchte Bettina sich herauszureden. »Ein echter Knaller. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das hat mich total eingeschüchtert.«

»Ihr habt euch doch geschrieben.« Verständnislos hob Sonny die Augenbrauen. »Und du hattest ein Foto von ihr.«

»Ein Foto in Freizeitkleidung«, verteidigte Bettina sich. »Lockerer, vergleichsweise unauffälliger Freizeitkleidung. Gestern sah sie aus wie ein Model.« Sie seufzte. »Wie ein Supermodel.«

»Na, na. So schlimm war es ja auch wieder nicht.« Sonny lachte, aber sie wusste, dass ihre Aussage nicht stimmte.

Yvonne hatte wirklich etwas von einem Supermodel. Einem Supermodel aus den Achtzigern vielleicht, aber einem Supermodel. So eine Frau hatte Sonny selbst auch noch nicht getroffen. Sie konnte Bettinas Einschüchterung bei Yvonnes erstem Anblick durchaus verstehen.

»Und sie ist sehr nett«, fügte sie hinzu. »Du musst dich unbedingt mit ihr treffen, um ihr das Ganze zu erklären. Dann kann es bestimmt noch was werden mit euch beiden.«

Ruth Gogoll: Liebe, Lüge, Leidenschaft

1 »Du bist eine süße Frau.« »Ich bin eine starke Frau.« Sonny lächelte. »Eine starke Frau, aber...
»Na du? Ist dein Frauchen noch nicht fertig?« »Gleich!« Das kam aus dem Bad. Dass gleich bei...
Sonny konnte aber auch einfach nach Hause fahren und Bettina ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn...
»Niemals!« Das klang so überzeugt, dass man es Bettina beinah hätte glauben können. »Ich versinke...
»Nett ist nicht der richtige Ausdruck.« Bettina gluckste. »Wirklich nicht. Sie ist –« »Schon gut«,...
»Ich bin nicht gern allein«, begründete Bettina das mit einem etwas trotzigen Ausdruck im Gesicht....
Langsam nickte Bettina, als hätte sie schon dasselbe gedacht. »Während wir per Video telefoniert...
Dann hatte sie auf die Uhr gesehen. »Ich würde sagen, sie kommt nicht mehr«, hatte sie ganz...
8 Es fühlte sich an, als wäre sie in Yvonnes Privatsphäre eingedrungen. Und das, obwohl Yvonne...
Auch andere Bilder konnte man so erstellen lassen. Eine Frau am Meer oder in den Bergen, lachend...
War das jetzt der Grund, dass sie es wieder tat? Heute war doch alles anders. Wie oft jetzt...
Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus. Die Intimität und Nähe, die Sonny gespürt hatte, hatte...