Dann hatte sie auf die Uhr gesehen. »Ich würde sagen, sie kommt nicht mehr«, hatte sie ganz sachlich festgestellt.

Erst da hatte Sonny bemerkt, wie viel Zeit vergangen war.

Als Yvonne sich bewegte, um sich noch einmal umzusehen, schwebte eine leise Duftwolke von ihr zu Sonny herüber. Eine Wolke hätte man es eigentlich gar nicht nennen können, es war nur ein Hauch.

Doch dieser Hauch erfasste Sonny wie das Auge eines Wirbelsturms. Es war, als ob um sie herum das Leben tobte, aber hier, im Inneren, war es ganz still. Hier war sie mit Yvonne ganz allein.

Dieser Augenblick verging sehr schnell, denn da hatte Yvonne schon beschlossen, dass sie gehen würde.

»Das Hotelzimmer hätte ich mir sparen können«, murmelte sie, als sie nach ihrer Handtasche griff. Dann auf einmal lächelte sie und sah Sonny an. »Oder vielleicht hat es sich doch gelohnt. Ein so nettes Gespräch habe ich lange nicht gehabt.«

Ihr Lächeln war wie immer eine Herausforderung für Sonny gewesen, aber sie riss sich zusammen. »Ich auch nicht«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Und gern hätte sie angefügt: »Das können wir ja mal wiederholen.«

Aber diese Worte waren dann natürlich ungesagt geblieben.

Yvonne war für Bettina reserviert, und Sonny mischte sich da nicht ein.

7

Schon lange hatte Sonny sich nicht mehr aktiv darum gekümmert, eine Frau kennenzulernen. Wenn sie eine Frau kennengelernt hatte, war das eher zufällig geschehen. So wie sie damals Bettina kennengelernt hatte, bei der Buchung ihrer Reise.

Für Bettina war diese Art nur eine von vielen gewesen, wie sie Kontakte schloss. Sie ergriff jede Gelegenheit dazu. Das tat sie noch nicht einmal bewusst, es lag ihr einfach im Blut.

Das Problem dabei war, dass die meisten Frauen ihre eigene Frau, ihre ganz persönliche Frau, die Frau ihres Herzens, wenigstens ab und zu lieber für sich allein haben wollten. Das war mit Bettina kaum möglich.

Früher, als sie noch jünger gewesen war, war Bettina in der ganzen Welt als Reiseleiterin unterwegs gewesen. Das entsprach ihrem ständig nach neuen Eindrücken suchenden Wesen.

Am liebsten hätte sie das immer noch getan, und manchmal tat sie es auch tatsächlich noch, aber die meisten Reisen hatten doch jüngere Leute übernommen. Selbst Bettina hatte einsehen müssen, dass sie keine zwanzig mehr war und ihr Körper etwas mehr Ruhe brauchte als in jungen Jahren.

Diese Beschränkung machte sie jedoch zusätzlich hibbelig. Denn so sehr ein Körper auch alterte, das innere Wesen tat es eben nicht. Jedenfalls nicht so wie der Körper.

Bettina hatte immer noch dieselben Bedürfnisse wie mit zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig, aber ihr Körper machte da einfach nicht mehr mit, so sehr sie ihn auch pflegte und mit Pilatesstunden, Jogging und anderen kräftezehrenden Beschäftigungen am Laufen hielt.

Sonny hatte im Gegensatz zu einigen anderen Leuten Verständnis dafür. Sie erwartete nicht, dass Bettina sich änderte. Sie nahm sie so, wie sie war. Im Grunde erwartete sie nichts von ihr, und so bekam sie von Bettina wahrscheinlich mehr als die meisten anderen Menschen.

Denn eins konnte man Bettina nicht absprechen: Sie war ungeheuer hilfsbereit. Man konnte sie mitten in der Nacht anrufen, und sie kam sofort angesprungen, um was auch immer für eine zu tun. Sie fragte nichts, sie tat es einfach.

Deshalb tat Sonny dasselbe auch für sie, wenn es möglich war. Sie konnte sich ein Leben wie das von Bettina nicht vorstellen, diesen Drang, immer unterwegs zu sein, immer Leute zu treffen, die eigenen vier Wände fast nur zum Schlafen zu sehen, aber sie akzeptierte es.

Deshalb wunderte es sie fast ein wenig, dass Bettina es für nötig befunden hatte, eine Kontaktanzeige aufzugeben. Ach nein, ein Profil in einer Dating-App zu erstellen. Sie traf so viele Leute, dass Sonny immer davon ausgegangen war, dadurch ergab sich genug.

Es hatte sich auch viel ergeben. Sonny konnte die Frauen gar nicht mehr zählen, die in den letzten Jahren durch Bettinas Hände gegangen waren. Im ziemlich buchstäblichen Sinne.

War das denn immer noch nicht genug? Ja, die Eine, die Frau Richtig, hatte Bettina noch nicht gefunden, aber ehrlich gesagt war es Sonny auch nicht so vorgekommen, als ob sie danach suchte.

Irgendetwas musste sich geändert haben. Darauf wies auch ihr Verhalten im Café am See hin. Dass sie weggelaufen war. Das war doch sonst nicht ihre Art.

Sonny fragte sich, was der Grund sein könnte. War es die Angst vor der großen Sieben, der Siebzig? Dass sie jetzt genau auf diese Zahl zuging?

Die Sechzig hatte sie schon schwer erschüttert, das hatte Sonny mitbekommen. Nach ihrem sechzigsten Geburtstag hatten die Frauen sich bei Bettina regelrecht die Klinke in die Hand gegeben. Als ob sie wieder ein Teenager mit überlaufenden Hormonen wäre.

Doch diese Phase hatte nicht sehr lange angehalten, dann hatte sich das wieder gelegt. Vermutlich aus Erschöpfung. So genau hatte Bettina sich nicht dazu ausgelassen.

Und jetzt verhielt sie sich so, als wäre sie fast zu schüchtern, um eine neue Frau kennenzulernen. Das war merkwürdig.

Durch diese Merkwürdigkeit hatte Sonny Yvonne kennengelernt. Und Yvonne erinnerte sie daran, wie schön es war, nicht allein zu sein. Mit einer Frau zusammen zu sein, die weder eine gute Freundin noch eine Kollegin war und mit der die Zeit verging wie im Fluge.

Fast hätte sie Bettina dafür böse sein können, dass sie sie daran erinnert hatte. Wäre sie nicht weggelaufen, wäre das alles nicht passiert.

Hätte sie Sonny nicht mitten in der Nacht aufgeweckt, wäre es nicht passiert. Warum hatte sie nicht allein zu diesem Treffen mit Yvonne gehen können?

Aber nun war es eben, wie es war, und Sonny musste sich mit Gefühlen herumschlagen, um die sie nicht gebeten hatte. Für eine Frau, die gar nicht zur Verfügung stand. Jedenfalls nach Sonnys Auffassung nicht, solange Bettina sich nicht entschieden hatte.

Und wenn es eine große Schwäche in Bettinas Charakter gab, dann war es ihre Unfähigkeit, sich zu entscheiden.

»Haben Sie eine Minute, Frau Tobias?«

Sonny blickte von ihrem Schreibtisch hoch zur offenen Tür hin, in der eine ihrer Mitarbeiterinnen stand. »Ja, Frau Schrecklein?«

»Herr Kowalewski hat mir da ein paar Sachen auf den Tisch geknallt«, erklärte ihre Mitarbeiterin Paula Schrecklein, während sie mit einem leicht verunsicherten Gesichtsausdruck hereinkam. »Ist das mit Ihnen abgesprochen?« Sie holte tief Luft. »Eigentlich habe ich nämlich keine Zeit dafür. Ich bin mit der Vorbereitung für die Bilanzierung beschäftigt.«

»Natürlich. Das sind wir alle.« Es überraschte Sonny jedoch nicht, dass das ihren Teamleiter Martin Kowalewski nicht interessierte.

Er stand kurz vor der Pensionierung und war immer noch sauer darüber, dass vor ein paar Jahren nicht er, sondern Sonny den Abteilungsleiterposten bekommen hatte. So wehrte er sich mit Händen und Füßen dagegen, die Dinge so zu erledigen, wie Sonny es vorgab.

Oder sie überhaupt zu erledigen. Vermutlich hatte er jetzt seine Arbeit einfach auf Paula Schrecklein abgeschoben und legte bildlich gesprochen die Füße hoch.

Sonny nickte Paula zu. »Ich kümmere mich darum. Machen Sie bitte Ihre Arbeit so weiter, wie wir es besprochen haben.«

»Danke.« Paula Schrecklein wirkte sehr erleichtert und ging weit weniger bedrückt, als sie gekommen war, aus Sonnys Büro hinaus.

Sonny seufzte. Wie froh würde sie sein, wenn Herr Kowalewski endlich in Rente ging. Das würde die Stimmung im Team gleich um einige Grade heben. Und ihre eigene auch.

Allerdings gab es auch andere Wege, die zu heben.

Sie nahm ihr Handy vom Tisch und lud sich die Dating-App herunter.

Ruth Gogoll: Liebe, Lüge, Leidenschaft

1 »Du bist eine süße Frau.« »Ich bin eine starke Frau.« Sonny lächelte. »Eine starke Frau, aber...
»Na du? Ist dein Frauchen noch nicht fertig?« »Gleich!« Das kam aus dem Bad. Dass gleich bei...
Sonny konnte aber auch einfach nach Hause fahren und Bettina ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn...
»Niemals!« Das klang so überzeugt, dass man es Bettina beinah hätte glauben können. »Ich versinke...
»Nett ist nicht der richtige Ausdruck.« Bettina gluckste. »Wirklich nicht. Sie ist –« »Schon gut«,...
»Ich bin nicht gern allein«, begründete Bettina das mit einem etwas trotzigen Ausdruck im Gesicht....
Langsam nickte Bettina, als hätte sie schon dasselbe gedacht. »Während wir per Video telefoniert...
Dann hatte sie auf die Uhr gesehen. »Ich würde sagen, sie kommt nicht mehr«, hatte sie ganz...
8 Es fühlte sich an, als wäre sie in Yvonnes Privatsphäre eingedrungen. Und das, obwohl Yvonne...
Auch andere Bilder konnte man so erstellen lassen. Eine Frau am Meer oder in den Bergen, lachend...
War das jetzt der Grund, dass sie es wieder tat? Heute war doch alles anders. Wie oft jetzt...
Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus. Die Intimität und Nähe, die Sonny gespürt hatte, hatte...