Geld spielte in ihrem Alltag keine große Rolle. Sie hatte gerade mal genug zum Leben, aber das kümmerte sie nicht. Selbst wenn sie keinen Cent in der Tasche hatte, fühlte sie sich reich. Was man brauchte, fand sich immer.

Das war ihre Lebensphilosophie in jeder Beziehung. Deshalb fanden manche Leute sie anstrengend, fast verstörend, doch das konnte Lisa nicht verstehen. Die Welt war ein wunderbarer Ort, das Leben war eine wunderbare Sache, wie konnte man das nicht sehen?

Ihre Eltern hatten es schon lange aufgegeben, sie ändern zu wollen. Sie hofften, es war nur eine Phase. Die dauerte jetzt jedoch schon so circa zehn Jahre an, was eigentlich dagegen sprach.

Lisa machte sich darüber jedoch keine Gedanken. Sie war glücklich damit, in den Tag hineinzuleben, von einem Tag auf den anderen, von einer Stunde auf die andere, einer Minute oder Sekunde. Immer wieder ergab sich etwas Neues, das sie faszinierte.

Eine Sache faszinierte sie jedoch schon sehr viel länger als alles andere, das war das Burlesquetanzen. Schon als Kind hatte sie Burlesquetänzerin werden wollen, und das hatte sich auch als Teenager noch nicht verloren gehabt.

Da sie so ziemlich alles konnte, was sie sich vornahm, und deshalb auch in der Schule gut war, hatten ihre Eltern jedoch darauf bestanden, dass sie zuerst einmal Abitur machte. Beim Abitur war sie noch unter achtzehn gewesen, deshalb war ihr da gar keine andere Wahl geblieben.

Schlimm hatte sie die Schule sowieso nicht gefunden. Im Gegenteil. Was immer sie tat, sie genoss es. Dazu musste sie sich noch nicht einmal anstrengen. Es war Teil ihrer Persönlichkeit wie ihre Fröhlichkeit, ihre Unbeschwertheit, die Leichtigkeit des Seins, die sie von oben bis unten ausstrahlte, die um sie herum schwebte wie eine glückliche Aura.

Viele liebten sie deshalb und beneideten sie darum, doch manchmal artete dieser Neid auch in richtige Missgunst aus. Vor allem bei Leuten, die sich viel mehr anstrengen mussten als sie, um das zu erreichen, was Lisa anscheinend mit einem Fingerschnippen erreichen konnte, wenn sie wollte.

Auch warfen sie ihr vor, dass sie gewisse Dinge eben nicht wollte, die für andere so wichtig waren, so unverzichtbar erschienen. Dass sie kein geregeltes Leben führen wollte, dass sie sich standhaft weigerte, ein Studium zu absolvieren oder einen Beruf zu erlernen, der für ein gesichertes Einkommen und Sozialleistungen sorgte. Wie oft hatte sie schon das Wort Rente gehört, das ihr persönlich nichts sagte.

Natürlich wusste sie, was eine Rente war, aber es kümmerte sie nicht, dass sie keine hatte. Wie immer ging sie davon aus, dass sich das, was sie brauchte, schon finden würde, egal in welchem Alter.

Allerdings konnte sie sich ein hohes Alter auch gar nicht vorstellen. Ihr Körper war so gut trainiert, dass sie von Gebrechen noch nicht einmal träumte.

»He Lisa!«

Wenn Lisa über die Straße ging, wurde sie hier in diesem Viertel, in dem sie wohnte und auch arbeitete, von vielen erkannt. St. Pauli war groß, viele Fremde trieben sich hier herum, Touristen, Wochenendbesucher, und trotzdem kam man sich manchmal vor wie in einem Dorf.

Fröhlich grüßte sie zurück. »Wie geht’s dir? Alles klar?«

»Wie immer«, antwortete der unauffällig gekleidete Mann Mitte vierzig.

»Super.« Lisa verwöhnte ihn mit einem breiten Lächeln, dessen sie sich gar nicht bewusst war. »Dann sehen wir uns heute Abend in der Vorstellung.«

»Klar.« Er winkte kurz und ging weiter.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Lisa auf dem Weg zum Supermarkt auf diese Weise aufgehalten wurde. Und es war das, was sie an ihrem Job und an ihrem Leben so liebte.

Obwohl sie sich jetzt direkt nach dem Frühstück – das bei ihr allerdings eher zur Mittagszeit oder sogar erst am Nachmittag stattfand, weil sie bis tief in die Nacht oder manche hätten auch gesagt bis in den frühen Morgen arbeitete – nicht besonders auffällig geschminkt oder angezogen hatte, wie es auf der Bühne der Fall war, war sie dennoch kein unauffälliger Typ. Schon ihre höchst faszinierenden hellen Augen, die praktisch jeden in ihren Bann zogen, verhinderten das.

Nicht alle mochten diese Augen, die so hell waren, dass man sie fast schon als farblos hätte bezeichnen können, und doch konnte sich kaum jemand ihrem Zauber entziehen. Viele Menschen hier in Hamburg wie überall im Norden hatten blaue Augen, manche dunkler, manche heller, aber niemand hätte Lisas Augen wohl als blau beschrieben. Für diese Farbe fehlte eine Bezeichnung.

Was diese helle Farbe noch auffälliger machte, waren Lisas dunkle Haare. Bei so hellen Augen erwartete man nach oben hin eine blonde Fortsetzung. Lisas Haarfarbe war jedoch genauso undefinierbar wie die ihrer Augen.

Braun konnte man sie nicht nennen, rot auch nicht, rotbraun oder kastanienbraun traf es aber ebenso wenig. Wenn sie blaue, orange, blonde, violette, türkis- oder pinkfarbene Strähnchen darin trug, wurde der Eindruck noch mehr verfälscht. Der Farbenpracht waren in Lisas Vorstellung keine Grenzen gesetzt.

Manchmal entschied sie sich auch für Grau, und obwohl Grau eigentlich überhaupt keine Farbe war, gelang es Lisa, sie wie die interessanteste Farbe von allen erscheinen zu lassen. Sie war eben einfach eine schillernde Persönlichkeit, die man nicht festlegen konnte.

Wer das versuchte, biss schnell auf Granit. Denn in einem durfte man sich nicht täuschen: Lisa war kein lockerer Vogel, den man hin- und herschubsen konnte, weil er nicht wusste, was er wollte. Das wusste sie sehr genau. Schon ihre Eltern hatten sich daran die Zähne ausgebissen, sie in eine andere Richtung zu lenken.

Doch das sah ihr niemand an. Weshalb so viele sie falsch einschätzten und sie für ein taumelndes Blatt im Wind hielten.

»Guten Morgen, Süße.« Diesmal war der Mann, der sich Lisa auf der Straße anschloss, weniger unauffällig als der erste. In der Tat hätte man ihn von Weitem trotz seiner beeindruckenden Größe überhaupt nicht für einen Mann gehalten. Schon allein sein Hüftschwung irritierte in dieser Hinsicht. Ganz zu schweigen von dem Kleid und den hochhackigen Schuhen. »Sollen wir zusammen frühstücken?« Er beugte sich zu ihr herunter und hauchte ein Küsschen rechts und links auf ihre Wangen.

Lisa gab ihm zwei ebenso flüchtige Küsse auf die Wangen zurück, lachte, strich mit einer Hand darüber und sagte: »Weich wie ein Kinderpopo. Da hast du dir ja wieder Mühe gegeben.«

Er hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen. »Immer«, gab er zurück. »Das weißt du doch. Soll ich etwa kratzen wie irgend so ein . . . Mann?« Das letzte Wort klang leicht verächtlich. »Café Zuckermonarchie?«, fügte er dann mit einem auffordernden Blick hinzu.

Freundlich schüttelte Lisa den Kopf. »Nein danke, Dominik. Heute nicht. Ich habe schon zu Hause gefrühstückt. Deshalb habe ich gar nichts mehr im Kühlschrank und muss jetzt einkaufen gehen. Denn später ist keine Gelegenheit mehr.«

»Ach ja.« Er seufzte, als hätte ihm jemand ein großes Unrecht angetan. Ihm ganz persönlich. »Einkaufen. Der Alltag. Dieses furchtbare tägliche normale Leben.« So, wie er das Wort normal betonte, hätte man es für eine Beschimpfung halten können.

Angela Danz: Rosen für Nathalie

1 »Nein, es tut mir leid. Das können Sie nicht als Werbungskosten absetzen.« Nathalie seufzte...
Weil sie selbst keinen Mann fand, jedenfalls schien das in ihrem Alter und mit ihrer Ausstrahlung...
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