Aber nein, diese Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie brutal. Und warum hatte sie sich dann überhaupt um den Vogel gekümmert? Nein, nein, sie würde ihm nichts tun.

Einen guten Grund, sich nach dem Vogel zu erkundigen, hatte Lisa damit jedoch. Auch wenn es nur ein Vorwand war, das war Lisa sofort klar. Sie hatte Lust, diese Frau wiederzusehen, auch wenn sie selbst nicht genau wusste, warum.

Vielleicht, weil sie so anders war als die Frauen, die Lisa kannte? Weil sie sie deshalb als interessant und aufregend empfand, obwohl es nichts von der Aufregung hatte, die sie jeden Tag im Wildest Dreams erlebte?

Schon lange keine Aufregung mehr für sie – außer dass sie eine möglichst gute Show abliefern wollte –, aber immer eine Aufregung für die Gäste. Die deshalb ja schließlich kamen.

Von einem konnte sie wohl ausgehen: Diese Frau würde nicht kommen. Sie hatte Lisa angesehen, als ob sie absolut gar nichts mit ihr anfangen könnte. Mit nichts, wofür Lisa stand. Mit dem Nachtleben, mit Burlesque, mit einer Bar, in der schwule Männer so taten, als wären sie große Diven. Das alles war bestimmt nicht ihre Welt.

Was wohl ihre Welt war? fragte Lisa sich.

Aber das konnte sie ja vielleicht herausfinden.

Auch wenn sie da schon eine Vermutung hatte.

13

»Wie geht es deinem Vogel?«

Nathalies Kopf ruckte hoch. »Wer sind Sie?«

Frau Kleinschmidt war gerade zum Mittagessen gegangen, und so war Nathalies Vorzimmer unbesetzt gewesen, weshalb die junge Frau, die plötzlich im Türrahmen stand, sich einfach so hatte hereinschleichen können. Nathalie hatte sie nicht gehört.

»Wir haben uns getroffen. Gestern. Beim Penny«, klärte die junge Frau sie auf. »Und da hattest du deinen Vogel dabei. Ich wollte mich nur nach ihm erkundigen.« Sie hob fragend die Augenbrauen. »Ach, da ist er ja.« Mit einem schnellen Rundumblick hatte sie den Käfig entdeckt.

»Ja, ich . . . ich wollte ihn nicht alleinlassen. Ich wusste nicht –« Das sollte die überirdische Gestalt aus dem Penny sein? Der Paradiesvogel? Nathalie wunderte sich, denn heute sah die Gestalt, die ihr gestern so erschienen war, ziemlich normal aus.

Nicht büromäßig normal, aber auf keinen Fall mehr aufgedonnert. Und . . . hm . . . das war wohl doch kein Mann. Oder irrte sie sich da jetzt wieder?

Die Person war viel kleiner, weil sie jetzt keine hochhackigen Schuhe mehr trug. Aber auch ohne Absätze war sie dennoch ein ganzes Stück größer als Nathalie. Kein Wunder, dass sie ihr mit den Schuhen so gigantisch hochaufragend erschienen war wie der Eiffelturm.

Wenn auch das meiste an ihr unbekannt erschien, die Stimme hatte Nathalie sofort wiedererkannt. Und sie hatte ihr wieder einen Schauer über den Rücken gejagt. Was sie erneut wütend machte.

Sie stand auf.

»Na du?« Die plötzlich erschienene Besucherin – doch, das war schon eine Frau – ging zum Käfig und betrachtete den Vogel aus einiger Entfernung, ohne ihm zu nahe zu rücken. »Er hat sich den Flügel gebrochen«, stellte sie fest.

»Ja, hat er.« Nathalie räusperte sich. »Wie . . . Wie haben Sie mich gefunden? Sie wussten doch gar nicht, wer ich bin.«

Das wundersame Wesen, von dem sie immer noch nicht so genau wusste, was sie davon halten sollte, lächelte. »Du hattest eine Menge Papiere im Auto. Und überall standen Name und Adresse dieses Steuerberaterbüros drauf.« Sie lächelte noch mehr. »Ich bin übrigens Lisa. Wenn ich das richtig gelesen habe, heißt du Nathalie?«

»Sie müssen gute Augen haben«, bemerkte Nathalie säuerlich. »Lesen Sie immer Sachen, die sie einfach so in fremden Autos herumliegen sehen?«

»Es lag offen da.« Lisa schien völlig unbeeindruckt. »Wenn du nicht willst, dass man das liest, solltest du das besser verstecken.«

Nathalie wurde ganz steif. »Die meisten Leute dringen nicht einfach so in die Privatsphäre eines anderen Menschen ein.«

»Die meisten Leute, die ich kenne, schon«, entgegnete Lisa lässig. Sie wandte ihre Augen kurz von Nathalie ab und dem Vogel zu. »Ich könnte dir mit dem Vogel helfen. Du hast ja viel zu tun hier.« Fast belustigt ließ sie ihren Blick über die Gesetzbücher und Steuerunterlagen mit Quittungen von Kunden schweifen, die Nathalies Schreibtisch zierten. »Und kennst dich nicht mit Wildvögeln aus.«

»Das sagten Sie bereits.« Nathalies Körperhaltung wurde noch steifer. Diese Lisa war eine Herausforderung für sie, wie sie lange keine mehr gehabt hatte. »Und ich bin immer noch nicht der Ansicht, dass wir uns gut genug kennen, um uns zu duzen. Würden Sie das bitte unterlassen?«

»Ich bin es so gewöhnt.« Lisa lächelte. »Ich duze mich mit jedem. Das Sie habe ich mir ganz abgewöhnt.«

»Ich aber nicht.« Nathalies Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen. »Es wäre nur ein Akt des Respekts. Und der Höflichkeit. Aber vielleicht wissen Sie nicht, was das bedeutet.«

»Oho!« Lisa lachte laut auf. »Das ist aber ein Schlag unter die Gürtellinie!«

»Das denke ich nicht«, erwiderte Nathalie förmlich. »Es ist einfach normales Geschäftsgebaren. Und ich habe ein Geschäft hier. In dem ich Kunden empfange. Zu denen ich höflich bin. Und das auch von meinen Besuchern erwarte.«

»Das ist also wirklich dein Laden hier?« Anerkennend blickte Lisa sich um. »Respekt.« Sie lachte, und ihre Augen blitzten Lisa fröhlich herausfordernd an, als wäre das alles hier ein köstlicher Witz, der allein zu ihrer Unterhaltung stattfand. »Siehst du? Ich kann es.«

»So, wie Sie es aussprechen, ist das nur ein Wort«, entgegnete Nathalie abschätzig. »Wenn Sie keine Steuerberaterin brauchen, würden Sie dann jetzt bitte gehen?«

Lisa lächelte. »Ich bin ja nicht wegen einer Steuerberatung gekommen, sondern wegen des Vogels.« Sie wandte sich erneut dem Vogelkäfig zu. »Was gibst du ihm zu fressen?«

»Beim Tierarzt habe ich Futter bekommen«, antwortete Nathalie, bevor sie merkte, dass sie gar nicht hatte antworten wollen.

»Gut.« Lisa nickte. »Und dann grab ein paar Regenwürmer aus und gib sie ihm. Lebendfutter ist wichtig.«

»Sonst noch Ratschläge?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen verschränkte Nathalie die Arme vor der Brust. »Um die ich nicht gebeten habe?«

»Ach ja, stimmt. Damit hast du ein Problem. Mit ungebetenen Ratschlägen.« Lisas Augen lachten, als sie sich wieder zu Nathalie umwandte. »Und du hast recht. Ich kann das auch nicht leiden.«

»Wenigstens etwas, das wir gemeinsam haben«, murmelte Nathalie.

Und obwohl sie das ironisch gemeint hatte, merkte sie, dass irgendetwas an dieser merkwürdigen Person sie anzog. Genauso wie schon im Penny-Markt. Nur konnte sie es sich jetzt besser erklären, weil sie wusste, dass ihr Gegenüber eine Frau war.

Aber Frau hin oder her – das war ja wohl ein Witz! Sie interessierte sich nicht für Menschen, die die Nacht zum Tag machten. Die waren . . . unzuverlässig, lebten ein Leben entgegen der Konvention.

Und wenn Nathalie etwas war, dann konventionell. Bei ihr musste alles seine Ordnung haben.

Angefangen damit, dass man nachts schlief und tagsüber arbeitete.

Wo käme man denn sonst hin?

Angela Danz: Rosen für Nathalie

1 »Nein, es tut mir leid. Das können Sie nicht als Werbungskosten absetzen.« Nathalie seufzte...
Weil sie selbst keinen Mann fand, jedenfalls schien das in ihrem Alter und mit ihrer Ausstrahlung...
Zwar hatte Nathalie keine Ahnung von Tieren, aber das legte wohl die Vermutung nahe, dass er sich...
Geld spielte in ihrem Alltag keine große Rolle. Sie hatte gerade mal genug zum Leben, aber das...
»Dem können wohl selbst wir uns nicht entziehen.« Unbekümmert lachte Lisa ihn an. »Ich denke gar...
Das brachte manchmal auch unerfreuliche Reaktionen mit sich, aber die ignorierte sie. Es betraf...
Glücklich war sowieso der falsche Ausdruck. Wer konnte schon sagen, was Glück war, wie sich das...
»Muss das sein?« Immer noch war Nathalie erbost und musterte dieses komische Zwitterwesen von oben...
11 »Oh, du hast einen Vogel.« Nathalie dachte, sie hätte sich verhört und drehte sich erbost um....
Aber nein, diese Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie brutal. Und warum hatte sie...
14 »Es war ein seltsames Gefühl, das Lisa befiel, als sie dieses Büro betrat, dann weiterging zur...
Mittlerweile hatte sie einiges daran machen lassen, sodass es repräsentativ genug war für ihren...