Glücklich war sowieso der falsche Ausdruck. Wer konnte schon sagen, was Glück war, wie sich das anfühlte? Zufrieden traf es eher. Sie war zufrieden, wenn sie in irgendwelchen Akten versinken konnte. Weil dort alles bis ins letzte Detail geregelt war.

Was man von menschlichen Beziehungen nicht unbedingt sagen konnte. Dort gab es so viele Unsicherheiten und kein Gesetzbuch, in dem man nachschauen konnte. Deshalb verzichtete sie lieber darauf, sich mit Menschen über das notwendige Maß hinaus abzugeben.

Ihre Kundinnen und Kunden verlangten von ihr ja auch nicht mehr als eine gute Dienstleistung. Möglichst wenig Geld für den Staat und möglichst viel für sich selbst. Auf dieser Ebene konnte sie menschliche Beziehungen haben, ohne sie wirklich zu haben. Sie hatte schon mehr persönlichen Kontakt, als ihr lieb war. Am liebsten hätte sie ganz darauf verzichtet.

Eine Dose. Sie würde sich einfach nur schnell eine Konservendose holen, irgendein Fertiggericht, das sie in fünf Minuten zu Hause aufwärmen konnte, um ihren Magen zu füllen.

Dort, wo sie wohnte, war jetzt dunkle Nacht, aber hier auf der Reeperbahn war alles hell erleuchtet. Hier fing der Tag erst an.

Es waren viel zu viele Menschen hier für ihren Geschmack, viel zu viel Rummel, zu viele Eindrücke für Augen und Ohren. Und auch für die Nase.

Angewidert zog sie die Nasenflügel kraus, als sie an einem Betrunkenen, der im Eingang des Supermarkts auf dem Boden an der Wand saß oder eher wie ein lebloser Sack hing, vorbeiging. Er stank entsetzlich.

Der Eingang war so eine Art Schleuse, eine Glastür, die den Markt abschloss, und eine andere, die ihn zur Straße hin begrenzte. Dazwischen lag ein kleines Areal, das so eine Art Niemandsland zu sein schien. Die Angestellten des Marktes versuchten zwar ständig, die Betrunkenen aus diesem Bereich zu vertreiben, aber kaum hatten sie sich umgedreht, waren die Flaschenkinder schon wieder zurück.

Auch dieser hier hielt eine Schnapsflasche auf dem Schoß. Seine Hose darunter war nass. Entweder hatte er da einen Teil des hochprozentigen Getränks verschüttet oder er hatte sich in die Hose gemacht. So, wie er stank, war es wahrscheinlich Letzteres. Und er hatte sich bestimmt auch schon lange nicht mehr gewaschen.

Schnell huschte Nathalie in den Markt hinein. Normalerweise ging sie hier nie einkaufen, aber um diese späte Stunde hatte sie keine Wahl.

8

»Ja, ja, ist ja schon gut. Ich liebe dich auch.« Lisa flüchtete sich in den Penny-Markt, als wäre es ein sicherer Hafen.

Von Betrunkenen oder Vergnügungssüchtigen angepöbelt zu werden war das Eine, aber ein Verehrer ihrer Kunst, der sie verfolgte, weil er nicht glauben wollte, dass sie eine Frau war, war noch wieder etwas anderes.

Es geschah öfter, dass sie in Kostüm und Maske für einen Mann gehalten wurde. Sie war als Frau ziemlich groß, und es gab ja auch Schwule, die ausnahmsweise nicht gleich ein Meter neunzig maßen.

Um die Illusion für das Wildest Dreams aufrechtzuerhalten, waren ihre Wangen so geschminkt, dass sie eher hohl und kantig erschienen, nicht weich und gefüllt wie bei einer Frau. Ihre Brüste hielten die meisten sowieso für Plastik, und dass zwischen ihren Beinen nichts versteckt werden musste, was üblicherweise hervorstach, bekam auch keiner mit, der das nicht vermutete.

In dieser Verpackung war sie eine Art Zwitterwesen, das niemand eindeutig einem Geschlecht zuordnen konnte. Sie mochte das durchaus, denn sich auf irgendetwas festlegen zu lassen war sowieso nicht ihr Ding. Der schillernde Paradiesvogel, als der sie auftrat, schon eher.

Ein bisschen ärgerte sie sich trotzdem über Dominik, der sie durch seinen Liebeskummer vom Einkaufen zu einer geeigneteren Zeit und in einem geeigneteren Outfit abgehalten hatte. Sie glaubte nicht, dass sein Liebeskummer lange anhalten würde. Das hatte er noch nie getan. Und damit war das Ganze Zeitverschwendung.

Ehrlich gesagt hatte sie Dominik überhaupt noch nie mit Liebe in Verbindung gebracht. Sie mochte ihn, und Dominik selbst bezeichnete sich als Lisas beste Freundin, was Lisa nicht bestritt, aber in Wirklichkeit wusste er nichts über Freundschaft und noch weniger über Liebe.

Schwule waren eben auch nur Männer, und das hieß, das Ding zwischen ihren Beinen, das die Burlesquetänzerinnen männlichen Geschlechts für ihre Auftritte versteckten, bestimmte dennoch ihr Leben.

Lisa hatte nichts gegen Sex, aber wie einen Sport betrieb sie es dann doch nicht. Das wäre ihr viel zu anstrengend gewesen.

Allerdings hatte sie im Wildest Dreams auch nicht so viele Gelegenheiten, wie ihre schwulen Kolleginnen sie hatten. Es kamen auch mal Lesben vorbei, aber wesentlich seltener als Heteros beiderlei Geschlechts und Schwule.

Viele davon hielten sie für einen Mann, und deshalb kamen die Angebote oft von der falschen Seite.

Aber damit konnte Lisa mittlerweile umgehen. Sie kam schon zu ihrem Recht, denn es gab ja auch noch andere Lokale als das Wildest Dreams. Lokale, in denen sie ohne das irreführende Kostüm auf Frauen traf, die wussten, was sie wollten. Und auch, dass Lisa kein Mann war.

So gesehen hatte das auch einen Reiz, den die die von außen hereingetragenen Versuchungen im Wildest Dreams für Dominik und seine Kolleginnen nicht haben konnten. Dort wurden sie ständig mit Anträgen verfolgt, wie Lisa auch, und viele von ihnen konnten nicht Nein sagen.

Jede Nacht ein neues Glück – wie eine der ›Chanteusen‹, wie sie sich nannten, auf der Bühne frei nach Zarah Leander und mit ihrer Stimme vom Band sang – war ihr Ideal. Sie hielten das überhaupt für das höchste Glück auf Erden.

Auch wenn Lisa noch nie viel darüber nachgedacht hatte, war das doch nicht ganz genau das, wie sie die Sache sah. Wenn sie Lust hatte, hatte sie Lust und ging aus. Wenn nicht, dann nicht.

Da sie ohnehin jeden Abend auf einer Bühne stand, brauchte sie die Bühne des Lebens nicht auch noch als Rampenlicht. Sie war da ganz entspannt.

Das schätzten viele an ihr und liebten sie sogar dafür, aber was viele nicht so an ihr schätzten, war ihre Unverbindlichkeit. Sie konnte sich nicht dazu entschließen, sich auf eine Person festzulegen.

9

»He! Können Sie nicht aufpassen?« Nathalie hatte plötzlich irgendwelche Federn im Mund, um die sie nicht gebeten hatte, und drehte sich um.

»Oh. Sorry.« Ein Wesen, das ihr wie von einem anderen Stern erschien, verzog das Gesicht vermutlich zu einem entschuldigenden Lächeln, aber wegen der vielen Theaterschminke sah es mehr aus wie eine Grimasse.

Das Wesen war ein ganzes Stück größer als sie – was allerdings auch an den hochhackigen Schuhen liegen konnte – und die Stimme hatte etwas Androgynes. Für eine Frau war sie tief, für einen Mann wäre sie ein hoher Tenor gewesen.

Aber natürlich war das ein Mann. Auf einmal erinnerte Nathalie sich an die Burlesque-Bar, deren Eingang im nächsten Hinterhof lag. In den Hinterhof hatte sie zwar noch nie hineingeblickt, aber es gab Hinweisschilder auf der Reeperbahn, die ihr aufgefallen waren, wenn sie hier entlang zu ihrem Büro ging.

Angela Danz: Rosen für Nathalie

1 »Nein, es tut mir leid. Das können Sie nicht als Werbungskosten absetzen.« Nathalie seufzte...
Weil sie selbst keinen Mann fand, jedenfalls schien das in ihrem Alter und mit ihrer Ausstrahlung...
Zwar hatte Nathalie keine Ahnung von Tieren, aber das legte wohl die Vermutung nahe, dass er sich...
Geld spielte in ihrem Alltag keine große Rolle. Sie hatte gerade mal genug zum Leben, aber das...
»Dem können wohl selbst wir uns nicht entziehen.« Unbekümmert lachte Lisa ihn an. »Ich denke gar...
Das brachte manchmal auch unerfreuliche Reaktionen mit sich, aber die ignorierte sie. Es betraf...
Glücklich war sowieso der falsche Ausdruck. Wer konnte schon sagen, was Glück war, wie sich das...
»Muss das sein?« Immer noch war Nathalie erbost und musterte dieses komische Zwitterwesen von oben...
11 »Oh, du hast einen Vogel.« Nathalie dachte, sie hätte sich verhört und drehte sich erbost um....
Aber nein, diese Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie brutal. Und warum hatte sie...
14 »Es war ein seltsames Gefühl, das Lisa befiel, als sie dieses Büro betrat, dann weiterging zur...
Mittlerweile hatte sie einiges daran machen lassen, sodass es repräsentativ genug war für ihren...