Zwar hatte Nathalie keine Ahnung von Tieren, aber das legte wohl die Vermutung nahe, dass er sich den Flügel gebrochen hatte. Und mit einem gebrochenen Flügel konnte kein Vogel fliegen, das wusste selbst sie.

Somit konnte sie ihn auch nicht einfach in die Luft werfen, damit er sich in den Himmel erhob. Das würde er nicht tun können. Er würde auf der Straße zerschellen.

»Hm. Was machen wir denn nun mit dir?«, murmelte sie vor sich hin und sah ihn an.

Wieder überlegte sie, ob sie auf die Putzfrau warten sollte. Die hatte, soweit Nathalie wusste, Katzen, kannte sich also weit besser mit Tieren aus als sie selbst.

Aber Katzen waren keine Vögel. Die würden sich höchstens freuen, etwas Leckeres zum Abendbrot zu bekommen. Na ja, so tierlieb, wie die Putzfrau war, würde sie den Vogel wohl kaum an die Katzen verfüttern.

Das wollte Nathalie aber sowieso nicht. Der Vogel konnte jedoch auch nicht hierbleiben. Er war ein Problem, das gelöst werden musste. Und im Problemlösen war Nathalie gut. Sie fand immer eine Lösung, wenn sie sich Mühe gab.

Also ging sie auf ihn zu. Aber sie hatte sich wohl zu schnell bewegt, denn panikerfüllt versuchte der Vogel zu flüchten, indem er einen Flügel leblos hinter sich herschleifte.

Sofort blieb Nathalie stehen. Der Vogel drückte sich in eine Ecke, saß dort zitternd und fast erstarrt vor Angst, duckte sich so weit wie möglich auf den Boden, um unsichtbar zu erscheinen.

»Ach du je«, sagte Nathalie. »Das ist jetzt ein Kommunikationsproblem. Wie kann ich dir klarmachen, dass ich dir nichts tue?«

»Können Sie nicht«, sagte eine Stimme von der Balkontür her.

Nathalie fiel ein Stein vom Herzen. Die Putzfrau war gekommen. Sie drehte sich zu ihr um und sah sie beinah dankbar an. »Gut, dass Sie da sind, Frau Wechsler. Ich glaube, der Vogel hat sich einen Flügel gebrochen, als er gegen die Balkontür flog.«

Frau Wechsler warf einen Blick auf den herunterhängenden Flügel. »Sieht so aus«, bestätigte sie. »Das muss geschient werden, damit es wieder zusammenwachsen kann.«

Das leuchtete Nathalie ein. Das war wie bei Menschen.

»Können Sie das machen?«, fragte sie.

Bedauernd schüttelte Frau Wechsler den Kopf. »Ich denke, das macht am besten ein Tierarzt.«

»Tierarzt.« Nathalie wiederholte das Wort, als wäre ihr plötzlich eine Erleuchtung gekommen. »Ja, natürlich. Die sind dafür zuständig.«

»Wer sonst?« Mit einer hinweisenden Bewegung ihres Kinns zuckte Frau Wechsler die Schultern. »Am besten, Sie packen das arme Tier in ein Handtuch und bringen es da hin.«

»Ich?« Der Gedanke war Nathalie noch gar nicht gekommen.

»Ich habe kein Auto«, sagte Frau Wechsler. »Und hier in der Nähe ist keiner.«

»Wissen Sie, wo?«, fragte Nathalie.

»Ich könnte Ihnen nur meinen eigenen sagen.« Überlegend runzelte Frau Wechsler die Stirn. »Aber das ist zu weit draußen. Es gibt bestimmt einen, der hier näher ist.«

Nathalie nickte. »Das lässt sich ja herausfinden.«

Schnell ging sie zu ihrem Schreibtisch und rief eine Suchmaschine auf.

4

»Kennen Sie sich mit Wildvögeln aus?« Der ältere Tierarzt sah Nathalie zweifelnd an.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne mich überhaupt nicht mit Tieren aus. Ich hatte noch nie ein Haustier.«

Mit Frau Wechslers Hilfe hatte sie es tatsächlich geschafft, den Vogel in ein Handtuch zu packen und zum nächstgelegenen Tierarzt zu fahren. Dann hatte sie eine Weile warten müssen, weil ziemlich viel los war – sie hatte gar nicht gewusst, dass es so viele Menschen mit Tieren gab, die ärztliche Hilfe benötigten –, was sie ziemlich nervös gemacht hatte, und nun war sie endlich im Behandlungsraum, fühlte sich aber mehr wie ein Störfaktor.

»Dann würde ich da nichts machen«, sagte er. »Das hat keinen Sinn. Sie kennen sich nicht aus, und Sie müssten eine ganze Menge Sachen kaufen, nur für diese kurze Zeit. Das fängt schon bei einem Käfig an. Oder haben Sie einen?« Er sah sie fragend an.

»So was habe ich noch nie gebraucht.« Erst jetzt wurde Nathalie klar, dass es mit dem einfach nur zum Tierarzt Bringen nicht getan war.

»Eben.« Er nickte. »Und ein Wildvogel braucht spezielle Fütterung. Wahrscheinlich würde er nicht so lange überleben, bis sein Flügel wieder einsatzfähig ist. Deshalb würde ich vorschlagen, machen Sie dem jetzt ein Ende.«

»Ein Ende?« Nathalie verstand nicht.

»Dann hat er es hinter sich und muss sich nicht mehr quälen«, erläuterte der Tierarzt.

»Sie meinen . . .?« Entsetzt klappte Nathalies Kinnlade herunter. »Ihn töten?«

»Das ist schnell getan.« Der Tierarzt zuckte die Schultern. »Ich bin nicht dafür, Tiere lange leiden zu lassen. Daher würde ich ihn einschläfern, das ist keine Sache. Ich gebe ihm nur eine Spritze . . .« Er wandte sich ab und schien auch gleich nach einer greifen zu wollen.

Reflexartig schossen Nathalies Hände vor, und sie riss den Vogel an sich. »Sind Sie verrückt? Ich weiß ja nicht, wie alt dieser Vogel ist –«

»Jung«, sagte er. »Sehr jung. Vielleicht war das sein erster Ausflug aus dem Nest.«

So ähnlich, wie Nathalie es sich gedacht hatte. Der Vogel war noch sehr unerfahren und hatte nicht gewusst, was ein Fenster oder eine Balkontür ist.

»Aber sonst geht es ihm gut?«, fragte sie. »Nur der Flügel ist gebrochen?«

Tadelnd sah der Tierarzt sie an. »Für einen Vogel ist das kein Nur. Wenn er nicht fliegen kann, ist er so gut wie tot.«

»Aber er ist noch nicht tot!«, widersprach Nathalie heftig. »Schienen Sie seinen Flügel, und ich nehme ihn mit nach Hause.«

»Das würde ihn nur unnötig quälen«, sagte er noch einmal. »Und zum Schluss würde er doch sterben. Weil Sie keine Erfahrung mit Wildvögeln haben.«

Ach, jetzt bin ich schuld? Langsam baute sich ein Wutanfall in Nathalie auf, obwohl sie sonst nicht dazu neigte. Sie war wirklich eher ein nüchterner Zahlentyp.

Aber irgendwie fühlte sie sich für diesen Vogel verantwortlich wie für einen Kunden, für den sie die beste Steuerersparnis herausholen sollte. Da gab sie auch nicht so leicht auf.

»Tun Sie es oder tun Sie es nicht?«, fragte sie, äußerlich kühl, aber innerlich brodelnd. »Sonst suche ich mir einen anderen Tierarzt.«

Er seufzte. »Na gut. Wenn Sie unbedingt wollen . . . Es ist Ihr Geld.«

5

»Wenn Lisa ihren Tag begann, sang sie meistens vor sich hin. Manche fanden das komisch, aber ihr selbst kam es ganz selbstverständlich vor. Es war das, was sie fühlte. Sie pfiff, sie sang, sie tanzte. Das lag einfach in ihrer Natur.

Alles, was sie fühlte, wollte sie der Welt sofort mitteilen. Vor allem positive Dinge. Allerdings fühlte sie auch kaum je etwas Negatives. Es wäre ihr schwergefallen, ein halb leeres Glas zu sehen. Sie sah immer ein halb volles. Oder füllte es in Gedanken gleich bis zum Rand auf.

Angela Danz: Rosen für Nathalie

1 »Nein, es tut mir leid. Das können Sie nicht als Werbungskosten absetzen.« Nathalie seufzte...
Weil sie selbst keinen Mann fand, jedenfalls schien das in ihrem Alter und mit ihrer Ausstrahlung...
Zwar hatte Nathalie keine Ahnung von Tieren, aber das legte wohl die Vermutung nahe, dass er sich...
Geld spielte in ihrem Alltag keine große Rolle. Sie hatte gerade mal genug zum Leben, aber das...
»Dem können wohl selbst wir uns nicht entziehen.« Unbekümmert lachte Lisa ihn an. »Ich denke gar...
Das brachte manchmal auch unerfreuliche Reaktionen mit sich, aber die ignorierte sie. Es betraf...
Glücklich war sowieso der falsche Ausdruck. Wer konnte schon sagen, was Glück war, wie sich das...
»Muss das sein?« Immer noch war Nathalie erbost und musterte dieses komische Zwitterwesen von oben...
11 »Oh, du hast einen Vogel.« Nathalie dachte, sie hätte sich verhört und drehte sich erbost um....
Aber nein, diese Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie brutal. Und warum hatte sie...
14 »Es war ein seltsames Gefühl, das Lisa befiel, als sie dieses Büro betrat, dann weiterging zur...
Mittlerweile hatte sie einiges daran machen lassen, sodass es repräsentativ genug war für ihren...