1
»Hey! Können Sie nicht aufpassen?«
Die großgewachsene und sehr schlanke junge Frau blickte ärgerlich von oben auf Rabea hinunter. Ihre Stimme klang tief und dunkel.
Hoppla! dachte Rabea. Was für ein süßes Teil. Ein Kribbeln machte sich in ihr breit. Und sofort schaltete sich ihr Womanizer-Modus ein.
Aber sie war nun einmal nicht eine von denen, die einen Fehler zugaben. Also lächelte sie zwar, aber ein wenig herablassend. »Sie hätten ja auch aufpassen können.«
»Ich muss zum Set.« Die junge Frau wirkte in Eile, leicht erregt und hitzig.
Was sie für Rabea noch begehrenswerter machte. Wenn das hier eine andere Situation gewesen wäre . . .
»Und auf dem Weg dahin verlieren Sie Ihre Sehkraft?«, fragte sie süffisant zurück.
Beinah entgeistert starrte die andere sie an. »Sie haben vielleicht Nerven . . .« Und schon lief sie auf ihren langen Beinen davon.
Rabea wusste sehr genau, dass nicht die andere in sie, Rabea, sondern Rabea in die andere hineingelaufen war. Aber das hätte sie niemals zugegeben. Schließlich war es Rabeas Buch, das hier verfilmt wurde. Wer war sie denn?
Und wer konnte dieses junge Ding schon sein? Ein Scriptgirl? Allerhöchstens. Vielleicht auch nur eine von den vielen Helfershelferinnen, die hier herumliefen und den Kaffee brachten. Die sich herausputzten in der Hoffnung, für etwas anderes entdeckt zu werden.
Na ja, sie sah schon sehr gut aus, musste Rabea zugeben. Sie selbst war dagegen ein Zwerg. In ihrem Trenchcoat wirkte sie ein bisschen wie Humphrey Bogart. Und das war auch ihr Stil. Cool und herausfordernd.
Da sie eine erfolgreiche Thriller-Autorin war, passte das ja auch irgendwie. Viele ihrer Bücher wurden verfilmt. Weshalb sie jetzt auch hier war. Sie wollte dabei zusehen. Zumindest am Anfang.
Oftmals hielten die Drehbuchautorinnen und -autoren sich nicht an das, was Rabea geschrieben hatte, und dann konnte sie nach einer Weile nicht mehr hinsehen. Aber die ersten Szenen waren meistens noch gut.
Sie musste sich nicht beeilen wie dieses . . . Scriptgirl, also schlenderte sie eher zum Set. Als sie von draußen herein und um die Ecke gekommen war, hatte sie eine Menge mehr Tempo draufgehabt, weil sie sich immer noch über einen Autofahrer ärgerte, der vor ihr wie eine Schnecke den ganzen Verkehr aufgehalten hatte.
Aber der Zusammenstoß mit dieser jungen Frau hatte ihre Perspektive auf einmal verändert. Ihre Gedanken wanderten zu dem erhitzten Gesicht zurück und schweiften zu all den Möglichkeiten, die das verursacht haben konnten. Diesmal lächelte sie richtig.
Mal sehen, ob dieses junge Ding für so etwas offen war. Wenn sie Karriere machen wollte . . .
Rabea war nicht achtundvierzig Jahre alt geworden, ohne alle Illusionen bezüglich Beziehungen zu verlieren. Sofern sie je welche gehabt hatte. Ihr Beruf, ihre Bücher waren ihr immer wichtiger gewesen als irgendwelche gefühlsmäßigen Anwandlungen. Die brachten sowieso nur Verdruss, hielten sie von der Arbeit ab.
Aber Sex . . . Sex war natürlich eine schöne Sache. Die sie ab und zu zur Entspannung brauchte. Darauf wollte sie nicht verzichten.
Und dann – na ja – sie wurde immer älter. Bislang hatte ihr das nichts ausgemacht, aber seit sie das natürliche Schwarz ihrer Haare mit immer mehr Tönungen in seinen Ursprungszustand zurückversetzen musste, konnte sie es nicht mehr leugnen.
Sie wollte nicht mehr immer nur in ein leeres Haus kommen. Mit einer Zufallsbekanntschaft oder einer kurzzeitigen Geliebten. Es wäre schön gewesen, wenn jemand schon dort gewesen wäre. Auf sie gewartet hätte. Das Haus lebendig gemacht hätte. Zu einem Zuhause umgewandelt hätte, statt nur einem Arbeits- und Schlafplatz.
Rabea hatte alles, was man sich nur wünschen konnte, Anerkennung, Geld, Ruhm, ein Leben, wie andere es sich erträumten.
Nur eines hatte sie nicht: eine Frau, mit der sie alt werden konnte.
Eine Frau für den Rest ihres Lebens.
2
Als Rabea das Set betrat, sah sie den Regisseur, den sie bereits kannte, weil er auch ihr letztes Buch verfilmt hatte, am Rande des zu einer Seite hin offenen Bühnenbildes im Gespräch mit zwei anderen Männern stehen. Einer davon war der Kameramann, der andere war Rabea unbekannt.
Sie verharrte für einen Augenblick im hinteren Teil des Studios und betrachtete die Kulissen. Das Set erschien ihr ziemlich überladen. Aber das war meistens so. Sie selbst war ein eher spartanischer Typ und stellte sich beim Schreiben oft auch einen ebenso minimalistischen Hintergrund vor.
Doch das Publikum brauchte mehr ›Fleisch‹ – wie der Regisseur das nannte. Sie wollten ihre Phantasie nicht allzu sehr bemühen, alles fertig zubereitet serviert bekommen.
Rabea war es recht, solange das grundsätzliche Prinzip ihrer Geschichte nicht verändert wurde. Und die Atmosphäre dieser ersten Szene hatten sie im Großen und Ganzen recht gut erfasst.
»Madame Cotillard!« Der Regisseur hatte sie entdeckt und winkte ihr, zu ihnen zu kommen.
Rabea setzte ein hoheitsvolles Lächeln auf, da sie im Moment ganz zufrieden war, und begab sich zu der Dreiergruppe. Dort angekommen nickte sie den beiden anderen Männern zur Begrüßung zu und gab dem Regisseur die Hand.
»Waren wir nicht schon bei Rabea?«, fragte sie leicht schmunzelnd.
»Aber ja. Natürlich.« Der Regisseur lachte. »Ist schon eine Weile her.«
»Ist es«, stimmte Rabea nickend zu. »Aber ich habe ein gutes Gedächtnis.« Es hatte etwas Vorwurfsvolles, wie sie das sagte.
Er merkte es und war verstimmt. »Ich auch«, gab er selbstbewusst zurück. »Sonst könnte ich diesen Job nicht machen.« Mit einer Hand wies er auf einen Stuhl. »Möchtest du dich nicht setzen? Wir fangen gleich an.« Kurz warf er noch einmal einen Blick auf die beiden Männer. »Ist alles klar?«
»Ja«, antworteten die unisono und nickten erneut.
Der Kameramann begab sich zu seiner Kamera, und der zweite zog sich in den Hintergrund des Sets zurück.
Etwas lümmelig ließ der Regisseur sich auf den Stuhl neben Rabea sinken, erfasste noch einmal alles mit einem Blick und verständigte sich mit einer Person, die direkt vor den Kulissen stand, mit einem Handzeichen. Dann rief er »Ton ab!« und gleich darauf »Klappe!«
Daraufhin trat die zuständige Assistentin, mit der der Regisseur sich zuvor verständigt hatte, in die Kulissen und sagte die Szene mit hochgehaltener Klappe an.
Wie Rabea bereits wusste, startete der Kameramann erst jetzt die Kamera, um den Verbrauch an Filmmaterial möglichst gering zu halten. Sobald sie lief, rief er »Klapp!«
Fast im selben Moment schlug die Assistentin die Klappe mit einem lauten Ton zu, hielt sie noch kurz hoch, damit der Kameramann sie gut aufnehmen konnte, und verschwand dann aus dem Bild.
Der Kameramann meldete: »Set!«
Und schon wurde das Ganze abgeschlossen mit »Bitte!« vonseiten des Regisseurs.
Das war die Aufforderung für die Darsteller, die Szene zu spielen.
Eine Tür auf der linken Seite öffnete sich, und eine Person, die zuvor versteckt dahinter gewartet hatte, trat hindurch.
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