Über das Schreiben
Artikel und nützliche Informationen rund um das Thema »Schreiben«

Wovon lebt ein Buch? Auch der Erfolg eines Buches? Was erwarten die Leserinnen, wenn sie ein Buch kaufen? Was möchten sie lesen?

Der Schlüssel zum Erfolg eines Buches sind lebendige Charaktere, mit denen die Leserin sich identifizieren kann, alles andere kommt erst danach. Aber wie kann man solche Charaktere, solche Figuren gestalten, damit sie spannend und interessant sind und die Erwartungen der Leserin erfüllen?

Von außen kam eine Anfrage, die lautete:

Ich habe jetzt gerade wieder die ganzen Schreibtipps auf der el!es-Webseite gefunden und bin begeistert! Ich schreibe selbst, und ich frage mich, ob Ihr vielleicht einen Ratschlag für Leute wie mich habt, die gute Ideen haben, auch plotten können und Dialoge schreiben können, aber die Probleme damit haben, sich in die Köpfe ihrer Charaktere hineinzuversetzen?

Ich wäre sehr dankbar für Hinweise!

Zuerst einmal herzlichen Glückwunsch, dass Du das, was Du da erwähnst, alles schon kannst! 😀Das ist eine Menge gutes Handwerk, und damit kann man schon sehr viel erreichen. 👍

Das Kernstück einer guten Geschichte sind jedoch, wie gesagt, gut ausgearbeitete Charaktere.  Figuren, in die Du ganz tief eintauchst, die wie Freunde und Familie sind, fast wie ein Stück von Dir selbst. (In der Tat sind sie das ja auch. Du kannst keine Figur entwickeln, die nicht wenigstens zum Teil auch ein Teil von Dir ist, die nicht auch Charakterzüge hat, die Du selbst nachvollziehen kannst oder an Dir kennst. Die Du an Dir selbst magst oder eventuell auch nicht magst.)

Das Wichtigste an diesen Figuren ist, dass Du sie in- und auswendig kennst, dass Du zu jedem Zeitpunkt ganz genau weißt, was sie tun würden, wie sie auf eine gegebene Situation reagieren würden. Was würden sie tun, und – manchmal sogar noch wichtiger – was würden sie auf keinen Fall tun?

Um sie besser kennenzulernen, damit Du das in jeder Situation entscheiden kannst, ist es meistens von Vorteil, Deinen Figuren ein paar Fragen zu stellen.

  1. Was will sie (die Figur)? Was ist ihr nach außen hin sichtbares Ziel?
  2. WARUM will sie das? (Was ist ihre innere Motivation, nicht die äußerliche? Was treibt die Figur innerlich an?)
  3. Was versteckt die Figur vor anderen? (Wofür schämt sie sich? Wovor hat sie Angst? Was will sie auf keinen Fall zugeben? Wofür würde sie Leute bewusst irreführen, um es zu verstecken? Welches Geheimnis will sie auf keinen Fall enthüllen oder enthüllt sehen?)
  4. Was versteckt die Figur vor sich selbst? (Was würde sie über sich selbst erkennen, wenn sie mal den Mut hätte, sich gehenzulassen, die Person, die sie nach außen hin darstellt, loszulassen, die Identität, die sie für sich aufgebaut hat und die sie schützt?)
  5. Und die wichtigste Frage von allen, die der direkte Weg dazu ist, einer Figur Tiefe, Wirkung und eine Charakterentwicklung zu verleihen:
    Was versetzt Deine Figur gefühlsmäßig absolut in Furcht? Was ist der größte Horror für sie?
    Welche (innerlichen) Wunden hat sie erlitten?
    An welche Dinge glaubt sie, will nicht davon lassen, um sich selbst sicher zu fühlen?
    Wie halten sie diese Glaubenssätze davon ab, das zu bekommen, was sie in Frage 1 bekommen wollte?
    Oder wie führen diese Ängste sie zu einem falschen, nicht erfüllenden Verlangen in Frage 2, statt sie ihre wahre Identität erkennen und leben zu lassen?

Das sind schon mal eine ganze Menge Dinge, mit denen man arbeiten kann. Glaubenssätze bestimmen unser Leben. Glaubenssätze wie „Ich bin schön“ oder „Ich bin hässlich“, „Ich kann nicht lieben“, „Niemand kann mich lieben“ und ähnliche.

Wenn eine Figur glaubt, dass sie hässlich ist, verhält sie sich anders als eine Figur, die glaubt, dass sie schön ist. Und das hängt absolut nicht von der tatsächlichen Schönheit dieser Figur ab. Es kann sein, dass die Figur, die sich für hässlich hält, viel schöner ist als die Figur, die sich für schön hält. Trotzdem werden die meisten Leute die Figur, die sich für schön hält, auch als schön oder zumindest attraktiv wahrnehmen. Das ist einfach ihre Ausstrahlung.

Umgekehrt, wenn eine Figur sich für hässlich hält, macht sie oft auch nichts aus sich, zieht sich eher unauffällig an, eventuell sogar schlampig, weil sie denkt, es lohnt sich sowieso nicht, läuft vielleicht ständig mit hängenden Schultern herum. Und genau diese Ausstrahlung hat sie dann auch. Wenn man ihre Umgebung fragt, wird wahrscheinlich kaum jemand sie als schön oder attraktiv bezeichnen, eben weil sie das selbst so steuert. Da kann sie so schön sein, wie sie will, niemand wird es sehen.

Solche Glaubenssätze haben im wahren Leben große Auswirkungen auf das Leben, das man lebt, und solche Glaubenssätze haben auch in einem Buch Auswirkungen auf das Leben der Figur, auf das, was sie im Buch darstellt und unternimmt. Oder nicht unternimmt.

Wenn ich also als Autorin eine Figur in den Mittelpunkt stelle, sollte ich genau solche Dinge über sie wissen, wie sie oben in den fünf Fragen gefragt wurden.

Dasselbe gilt jedoch für alle Figuren. Jede Figur in einem Roman hat ein eigenes Leben, und das muss der Roman widerspiegeln. Deshalb reicht es nicht aus, nur die Hauptfigur genauestens zu charakterisieren, man muss auch die anderen Figuren (in einem Liebesroman natürlich vor allem die zweite Hauptfigur) genauestens kennen und charakterisieren.

Nehmen wir als Beispiel noch einmal Tiffany und Harper.

Hält Harper sich für schön? Wahrscheinlich.

Hält Tiffany sich für schön? Wahrscheinlich nicht. Oder sie hat noch nie darüber nachgedacht.

Denkt Harper, sie kann alles erreichen, was sie will? Wahrscheinlich. Auch wenn sie das noch nie versucht hat.

Denkt Tiffany, sie kann alles erreichen, was sie will? Wahrscheinlich nicht. Auch wenn sie es ständig versucht und damit kämpft zu überleben. Aber gerade deshalb hat sie auch schon oft die Erfahrung gemacht, dass das, was sie sich wünscht, für sie unerreichbar ist. Dass alle ihre Versuche, es zu erreichen, zunichte gemacht werden.

Wovor hat Harper Angst? Vor nichts wahrscheinlich. Sie hat ja alles, was man sich nur wünschen kann.

Wovor hat Tiffany Angst? Das ist jetzt die Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass Tiffany vor allem Existenzängste hat – die Harper völlig unbekannt sind – und damit auch Angst, ihren Job zu verlieren, ihre Wohnung, ihre Katze. Das kleine Leben, das sie sich aufgebaut hat. Obwohl das eigentlich nicht viel wert ist, ist es dennoch alles, was sie hat. Was die Angst, es zu verlieren, sicher schürt.

Tiffanys größte Angst könnte aber auch sein, sich zu blamieren. Ihre Eltern haben ihr eine gute Schulausbildung vorenthalten. Sie denkt, alle anderen Leute sind schlauer als sie, intelligenter, gebildeter, haben bessere Umgangsformen und werden dadurch ernster genommen. Sie ist durchaus intelligent, aber sie durfte das nie beweisen. Sie hält sich für kleiner, als sie ist.

Was würde also passieren, wenn sie sich irgendwo als etwas ausgeben müsste, was sie nicht ist – Universitätsprofessorin zum Beispiel –, und dann käme das heraus?

Sicherlich wäre jetzt erst einmal die Frage, warum sollte sie sich als Professorin ausgeben, aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, sich vorzustellen, wie Tiffany in dieser Situation reagieren würde, denn das sagt sehr viel über ihren Charakter aus. Darüber, wie sie wirklich ist. Wer sie wirklich ist.

Wenn man nämlich mit seiner größten Angst konfrontiert wird und die dann überwindet, geht man als ein völlig anderer Mensch aus dieser Konfrontation hervor. Als ein größerer, an der Herausforderung gewachsener, selbstbewussterer Mensch.

Wenn man in derselben Situation jedoch versagt, wird man noch mehr von seinen Ängsten eingeholt. Der Mensch, der man ist und den man auch die ganze Zeit nach außen hin dargestellt hat, wird zementiert und ist das nächste Mal vielleicht überhaupt nicht mehr zu einer Konfrontation mit seiner Angst bereit. Er weicht ihr von vornherein aus.

Was dazu führt, dass dieser Mensch immer mehr in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Ein solcher Mensch wäre keine gute Hauptfigur für ein Buch.

Wenn Tiffany ihre Angst aber überwindet und sich souverän behauptet, dann . . . ja, dann muss Harper sich warm anziehen. 😎