1
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben.«
Madeleine hörte die Worte, aber sie konnte sie kaum glauben. Wie konnte irgendjemand ihr die Schuld dafür geben, was passiert war?
»Ich? Wieso denn ich?«
»Dein ganzer Lebensstil.« Ihre Mutter zog missbilligend die Nase kraus. »Hast du erwartet, dass das ewig gutgeht?«
Madeleines Lippen pressten sich zu einem weißen Strich zusammen. »Was meinst du mit . . . Lebensstil?«
»Du weißt ganz genau, was ich meine.« Obwohl sie beide am Kaffeetisch saßen, musterte ihre Mutter sie, als befände sie sich mindestens zwei Meter über ihr.
Das hatte sie immer schon getan. Solange Madeleine denken konnte.
Ihre Lippen pressten sich noch mehr zusammen. Wenn das überhaupt möglich war. »Ja, das weiß ich«, quetschte sie hervor. Dann holte sie tief Luft. »Das bedeutet also, du willst mir nicht helfen?«
»Das habe ich oft genug getan. Wir haben das getan, solange dein Vater noch lebte. Aber jetzt . . .« Regine Höriger sah Madeleine mit ihren kalten Kristallglasaugen an. »Du musst endlich einmal anfangen, die Konsequenzen deines Handelns zu tragen. Dein Vater hat dich viel zu sehr verwöhnt. Du bist eine erwachsene Frau. Sorg für dich selbst. Du kannst nicht erwarten, dass das jemand anderer für dich tut.«
»Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, hm?«, zitierte Madeleine. »Denkst du, so ist das gemeint?«
»Ja.« Ihre Mutter nickte heftig. »Genauso ist das gemeint.«
»Genauso«, wiederholte Madeleine und stand auf. »Ich verstehe. In die Kirche rennen und beten, das ist in Ordnung. Aber jemand anderem helfen, wenn es darauf ankommt, das ist zu viel verlangt. Noch nicht einmal deiner eigenen Tochter«, setzte sie bitter hinzu.
»Meiner Tochter, die meint, ihr müsste alles auf einem Silbertablett serviert werden«, wandelte ihre Mutter ab. »Die Zeiten sind jetzt vorbei.«
Einer von Madeleines Mundwinkeln zuckte. »Das habe ich von dir gelernt . . .«, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, »Mutter. Oder hast du in deinem ganzen Leben schon mal einen Finger gerührt?«
Wieder sah ihre Mutter sie kalt an. »Das brauchte ich nicht, weil ich immer die richtigen Entscheidungen getroffen habe. Im Gegensatz zu dir.«
Madeleine stand da, sah auf sie hinunter und nickte. »Die richtigen Entscheidungen. Sicher. Du hast einen reichen Mann geheiratet, der alles für dich getan und alles für dich bezahlt hat, meinst du das?«
»Willst du jetzt auch noch auf deinem Vater herumhacken, nicht nur auf mir?«, schnappte ihre Mutter.
»Das habe ich nicht gesagt. Und das weißt du auch.« Madeleine merkte, dass das alles hier keinen Sinn mehr hatte. Wenn ihr das nicht schon vorher klargewesen war. »Dann gehe ich jetzt. Und erwarte nicht, dass ich dich noch einmal anrufe.«
»Warum sollte ich das erwarten?« Die Augen ihrer Mutter, die noch nie einen warmen Schimmer gehabt hatten, reflektierten jetzt das Licht vom Fenster wie ein Spiegel. Ein Spiegel, den nichts durchdringen konnte. Kein Gefühl und keine Anteilnahme. »Du würdest doch nur anrufen, um mich wieder anzubetteln. Darauf kann ich verzichten.«
Madeleines Wangen zogen sich nach innen, sodass sie hohl wirkten. Ihre Kiefer mahlten. »Auf etwas anderes verzichtest du dadurch nicht?«
Ihre Mutter gab ein abschätziges Geräusch von sich. »Sei nicht so naiv. Werd endlich erwachsen!«
Madeleine sagte nichts mehr, sah sie nur an, drehte sich mit einem kalten Blick, der den ihrer Mutter imitierte, um und ging.
Das war dann wohl der letzte Besuch in ihrem Elternhaus gewesen.
Aber was sollte sie jetzt tun?
Welche Möglichkeiten blieben ihr?
2
»Ach Liebchen, du weißt doch, ich bin selbst immer knapp.«
Es war erstaunlich, wie jemand, der von oben bis unten in die teuersten Designerklamotten gekleidet war und einen Kleiderschrank hatte, der von hier bis Honolulu reichte, so etwas behaupten konnte, aber Madeleines angeblich bester Freundin Juliane kam dieses Bekenntnis leicht über die Lippen.
So viel zu besten Freundinnen. »Es wäre ja nur übergangsweise«, versuchte Madeleine zu erklären. »Ich muss aus dem Haus raus und weiß nicht, wo ich hin soll.«
Julianes Haus hätte genügend Zimmer gehabt, aber Madeleine eins davon anzubieten, kam ihr gar nicht in den Sinn.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es ist, die passenden Schuhe zu diesem Kleid zu finden«, wechselte sie einfach das Thema und hielt sich das Kleid vor die Brust, während sie sich vor dem Spiegel drehte. »Ich war schon in London, Mailand und Paris. Aber nichts. Wahrscheinlich muss ich noch nach New York.« Sie seufzte. »Mir bleibt auch nichts erspart.«
Madeleine fragte sich, wieso nicht eins der zweihundert Paar Schuhe, die Juliane bereits im Schrank hatte, passen sollte, aber sie wusste, dass das die falsche Frage war.
»Ja, es ist schwierig«, stimmte sie zu. »Genauso schwierig wie einen Platz zum Wohnen zu finden.«
Es passte Juliane gar nicht, dass Madeleine die Sprache wieder darauf brachte. Jemand, der kein Geld hatte, und dessen Probleme waren ein Unthema in Julianes Kreisen.
Die bisher auch Madeleines gewesen waren. Hatte sie jedenfalls gedacht.
Aber so etwas änderte sich schnell, wenn man die Ansprüche dieser Kreise nicht mehr erfüllen konnte. Ihre Mutter war so, Juliane war so, alle waren so.
Bislang war das Madeleine nie aufgefallen, weil sie noch nie in einer solchen Situation gewesen war. Aber nun war sie es, und es fiel ihr nicht nur auf, es fiel ihr wie der Himmel auf ihren Kopf.
»Willst du nicht mitkommen?« Julianes Augen leuchteten auf, als sie ihren Blick kurz von dem Kleid ab- und im Spiegel Madeleine zuwandte. »Wir könnten zusammen in New York shoppen gehen. Das wäre ein Spaß.«
»Und wovon soll ich das bezahlen?« Madeleine hob die Augenbrauen. »Schon vergessen? Ich habe kein Geld mehr. Nicht mal für die Miete.«
»Miete?« Unwillig zogen Julianes Stirnfalten sich zusammen. Oder hätten es getan, wenn da nicht das Botox gewesen wäre. »Aber ihr habt doch das Haus. Das ist nicht gemietet.«
»Nein, das wird zwangsversteigert«, erwiderte Madeleine kurz angebunden. Langsam ging ihr die Geduld aus. Sich wie eine Bettlerin vorzukommen war nicht gerade ihr Spezialgebiet. »Deshalb muss ich da raus.«
»Dann kauf doch ein anderes«, schlug Juliane selbstvergessen vor, während sie nun ein weiteres Kleid vor ihren Körper hielt und gegen ihre vom ständigen Diäten hervorstehenden Hüftknochen presste, um die Wirkung im Spiegel abzuschätzen.
Madeleine seufzte. »Ja, sicher. Warum tue ich das nicht?«
»Mein Peterchen hat in seiner Jugend ja auf einem Campingplatz gewohnt«, platzte Juliane mit einem ungläubigen Glucksen heraus. »Kannst du dir das vorstellen? Auf einem Campingplatz! Ohne Wasser und Strom.« Angelegentlich verzog sie das Gesicht. »Er war ein richtiger Rebell, bevor er mich kennenlernte. Seine Eltern waren sooo froh, als wir dann geheiratet haben und ich ihn zur Vernunft gebracht habe!«
Und dazu, viel Geld zu verdienen, dachte Madeleine. Um dir diesen Luxus zu ermöglichen.
Aber sie wusste, dass sie als Allerletzte das Recht hatte, so etwas zu denken. War sie nicht in dieselbe Falle getappt?
Wieder versuchte Juliane, die Stirn zu runzeln, was ihr erneut nicht gelang. Ihre Stirn blieb glatt wie ein Kinderpopo. »Mir fällt gerade ein, den alten Wohnwagen hat er immer noch. Der steht noch irgendwo. An einem See. Er fährt da hin, wenn er angelt.« Sie stieß abschätzig die Luft aus. »Männer haben schon langweilige Angewohnheiten.«
»Weißt du, wo der Wohnwagen steht?«, fragte Madeleine.
»Ich? Nein.« Fast empört schaute Juliane sie wieder über den Spiegel an. »Meinst du, ich zwänge mich in so ein Ding? Wo man sich noch nicht mal waschen kann? Iiih!« Sie schüttelte sich vor Ekel. »Und Angeln . . . Also hör mal.« Sie rollte die Augen.