Natsuko . . . Rabea erinnerte sich an die kleine, geschmeidige Japanerin. Sie war sogar noch kleiner als Rabea gewesen. Und wirklich sehr . . . beweglich.

Unwillkürlich räusperte sie sich. »Nein, das ist nicht nötig«, sagte sie. »Für mich musst du niemanden einladen. Ich werde schon jemanden finden zum . . . Unterhalten.«

Entweder ignorierte Kornelia die Anspielung oder sie hatte sie gar nicht mitbekommen. »Es sind, wie ich schon sagte, ein paar sehr spannende Leute da. Wir haben einige neue Autorinnen und Autoren verpflichtet dieses Jahr, die dir auch gefallen werden.«

»Ich muss weiterschreiben, Konny«, unterbrach Rabea sie fast, weil es ihr jetzt schon gewaltig in den Fingern kribbelte. »Schick mir einfach die Details, und ich werde da sein.«

»Schön.« Kornelia lächelte zufrieden. Sie hatte erreicht, was sie wollte. »Dann sehen wir uns in zwei Wochen.«

»Bis dann.« Schnell legte Rabea auf, um den Videoanruf auf ihrem PC in den Hintergrund verschwinden zu lassen und ihr Schreibprogramm wieder in den Vordergrund zu holen, wo es ihrer Meinung nach immer hingehörte.

Soziale Medien oder so etwas benutzte sie nicht, und auch Videoanrufe waren mehr als störend. Darauf konnte sie gut verzichten wie auf viele heute so populäre Aktivitäten.

Die Szene, die sie gerade schrieb, beschäftigte sich mit der ersten Begegnung der Serienkillerin mit ihrem neuen Opfer. Da kam eine Party, zu der Rabea unvermutet eingeladen wurde, gerade recht.

Ihre Serienkillerin verdingte sich beruflich als Privatdetektivin, was Rabea aus ironischen Gründen sehr amüsant fand. Auf diese Weise hatte Chloe – so hieß Rabeas Figur jetzt erst einmal, das konnte sich noch ändern – fast eine Art Freifahrtschein für ihre Morde.

Kaum jemand verdächtigte zuerst jemanden, der scheinbar auf der Seite des Gesetzes stand. Etliche Privatdetektive waren ja tatsächlich einmal Polizisten gewesen.

Chloe nicht. Sie war in einer Familie aufgewachsen, die man kaum jemandem als Ursprungsfamilie wünschte.

Die Gehirnleistung ihrer Mutter grenzte ans Debile, und wenn ihre Mutter etwas nicht verstand, wurde Chloe dafür geschlagen.

Wobei es keine Ausnahme war, dass ihre Mutter etwas nicht verstand. Es war sozusagen das Normale. Jeden Tag und ständig.

Ihren Vater kannte sie zwar, aber er war nie mit ihrer Mutter verheiratet gewesen. Auch später kam er höchstens vorbei, um Sex mit ihr zu haben – man hätte es auch Vergewaltigung nennen können –, sie zu schlagen, oder Geld für Alkohol aus ihr herauszupressen.

Denn Chloes Mutter hatte ab und zu Geld, weil sie als Gelegenheitsprostituierte – wenn man das so nennen wollte – arbeitete. Auch Chloe war ein Ergebnis einer dieser Begegnungen.

Vermutlich hätte ihre Mutter das, als was Chloe und viele andere sie betrachteten, nicht als ihren Beruf angegeben – hätte sie überhaupt darüber nachgedacht, was ihr schon grundsätzlich fernlag –, aber Gelegenheiten gab es viele.

Dass Chloe sehr viel intelligenter war als ihre Eltern, hatte sich schon sehr früh gezeigt. Aber je älter sie wurde, desto mehr versuchte sie, es zu verheimlichen.

Denn es brachte ihr höchstens Schläge, Beleidigungen oder Beschimpfungen ein. Demütigungen, gegen die sie sich sehr lange nur dadurch wehren konnte, dass sie jegliche Gefühle in ihrem Inneren abschaltete.

Hatte das zu ihrer Entwicklung zur Psychopathin beigetragen oder war sie schon als Psychopathin geboren worden?

Das fragte Rabea sich immer noch. Sie hatte das noch nicht endgültig entschieden. Es lag ihr nicht, Entschuldigungen für Mörder zu suchen. Jeder Mensch war für sich selbst verantwortlich, davon war sie fest überzeugt.

Ein Mord im Affekt, das war etwas anderes. Über so etwas schrieb Rabea nicht. Serienkiller planten ihre Morde immer sehr sorgfältig. Den ersten vielleicht nicht unbedingt, aber die folgenden.

Nachdem Kornelia sie angerufen hatte, stellte Rabea sich Chloe nun auf einer Party vor. Mit geschlossenen Augen verschob sie das Szenario hin und her, fügte Figuren und Gegenstände hinzu.

Es war ein opulentes Fest, in das sie Chloe verfrachtete. So würde das Verlagsfest nicht sein. Kornelia hatte einen sehr bodenständigen Geschmack. Es würde alles geben, was das Herz begehrte, aber keine Übertreibungen.

Im Gegensatz zu der Party, auf der Chloe jetzt in Rabeas Gedanken war. Ihr Auftraggeber wollte, dass Chloe seine Tochter, die aus dem Ruder gelaufen war, nach Hause zurückholte.

Dass er sie davon überzeugte, in die Firma des Vaters einzusteigen und sie letztendlich zu übernehmen. Was das Gegenteil von dem war, was seine Tochter wollte.

Chloe sollte sich ihr Vertrauen erschleichen und sozusagen von Frau zu Frau mit ihr reden, da der Vater das Gefühl hatte, seine männliche Art kam bei ihr nicht an.

Für Chloe hatten seine Beweggründe keine Bedeutung. Sie hatte ihre eigenen. Luxus liebte sie jedoch ebenso wie die Tochter ihres Auftraggebers, und so hatte sie sich nichts Besseres wünschen können als diese Aufgabe.

In diesem Moment sah sie Audrina – wer hatte dem Kind nur diesen Namen angetan? fragte Chloe sich – zum ersten Mal. Zuvor hatte sie Fotos von ihr gesehen, die der Vater Chloe gegeben hatte, damit sie seine Tochter erkannte.

Diese Fotos spiegelten die wahre Audrina jedoch in keiner Weise wider. Es waren so eine Art gestellte Kinderfotos, auch wenn Audrina da schon kein kleines Kind mehr gewesen war. Offenbar hatte man sie dazu in ein Fotostudio gezerrt, das den künstlichen Eindruck der Aufnahmen noch verstärkte.

Der erste Anblick auf der Party war ein völlig anderer.

Rabea ließ Audrina nackt in einen Pool springen.

»Das ist so Klischee . . .«, hörte sie da plötzlich wieder diese Stimme in ihrem Kopf, die sie nicht wirklich hörte, sondern irgendwie . . . fühlte.

»Ach, lass mich doch in Ruhe!« Auf eine Art, die den Zorn erneut in ihr hochschießen ließ, in ihrer Arbeit gestört, riss Rabea die Augen auf und war mit einem Mal völlig aus ihrer eigenen Szene verbannt. »Was willst du denn schon wieder?«

»Dir helfen«, sagte die Stimme.

»Ich brauche keine Hilfe!«, schnappte Rabea. »Verschwinde!«

Die Stimme in ihrem Kopf lachte leise. »Ich kann nicht verschwinden. Ich bin du. Schon vergessen?«

Die ständige Wiederholung einer Lüge, die als Tatsache hingestellt wurde, ging Rabea nun so sehr auf die Nerven, dass sie am liebsten mit irgendetwas um sich geworfen hätte.

Doch obwohl das ihr erster Impuls war, beherrschte sie sich. Zumal auch nicht viel anderes da war als ihre Arbeitsutensilien. Und die brauchte sie noch.

Irgendetwas war da in ihrem Kopf, das sie offenbar nicht kontrollieren konnte. Woher das kam, konnte sie jedoch immer noch nicht feststellen.

Und wenn sie ihr Gefühl nicht trog, würde das auch nicht so leicht sein. Also war es verschwendete Zeit. Zumindest für den Augenblick.

Recherche für ein Buch, gut und schön, das musste sein, auch wenn Rabea es nicht liebte. Aber Recherche in ihrem eigenen Kopf? Mit so etwas hatte sie sich noch nie beschäftigt.

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1 »Hey! Können Sie nicht aufpassen?« Die großgewachsene und sehr schlanke junge Frau blickte...
Rabea schnappte nach Luft. Das war doch dieses . . . Scriptgirl! Das war sie jedoch offensichtlich...
Das allein war schon ein Grund, sich dieser Frau zu entziehen. Abgesehen davon, dass sich Rabea...
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