»Nein, ich –« Endlich konnte Rabea ihre Hand fallenlassen. Es war wie eine Befreiung, und dennoch wurde ihre Haut sofort kalt, als hätte Rabea plötzlich in klirrendem Frost einen Handschuh ausgezogen. »Ich habe –«

Erneut brach sie ab, drehte sich um und ging schnell ein paar Schritte auf den Schrank zu, den sie zuvor schon einmal geöffnet hatte. Sie öffnete ihn erneut, doch diesmal nahm sie eine Flasche heraus.

»Christoph hat mir gesagt, dass Frauen eine gewisse Wirkung auf dich haben«, bemerkte Alexis leicht lächelnd.

»Und die willst du . . . wollen Sie jetzt ausnutzen«, stellte Rabea genauso frostig, wie ihre Hand sich anfühlte, fest.

»Wofür?« Alexis zuckte die geraden Mannequin-Schultern. »Ich will nichts von dir.«

8

Das war vielleicht die falsche Antwort gewesen, dachte Alexis gleich darauf, als sie Rabeas Reaktion bemerkte.

Die sagte nichts, nahm nur ein Glas aus dem Schrank heraus und goss sich etwas aus der Flasche ein, die sie bereits in der Hand hielt. Mit einem einzigen Schluck leerte sie das Glas bis auf den Grund.

Es war Whisky, wie Alexis am Etikett sah. Und das waren mindestens zwei Fingerbreit gewesen. Pur.

Noch einmal füllte Rabea ihr Glas nach, doch diesmal trank sie nicht daraus, sondern behielt es in der Hand. »Weshalb bist du dann gekommen?«, fragte sie vor sich in die Luft hinein, ohne Alexis anzusehen.

Eben noch hatte sie es mit dem Sie versucht, doch nun ließ sie sich offenbar auf das von Alexis ausgesprochene Du ein.

War das ein gutes Zeichen? fragte Alexis sich.

Und gleichzeitig fragte sie sich, wie sie Rabeas Frage beantworten sollte. Denn sie kannte die Antwort selbst nicht.

Als sie auf dem Weg hierher gewesen war, sogar noch, als sie in dieses Haus getreten war, hatte sie gedacht, sie würde sie kennen. Die Antwort war damals die gewesen, die sie auch Christoph gegeben hatte. Davon war sie fest überzeugt, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Doch war sie das jetzt immer noch? Dieser Kuss auf die Wange war nicht nur für Rabea sichtlich überraschend gekommen, sondern für Alexis auch. Sie hatte spontan gehandelt, wobei sie sich selbst nicht verstand.

Es musste die merkwürdige Atmosphäre dieses Hauses sein, die auf sie einwirkte. Oder die merkwürdige Person Rabea.

Verzeihen Sie bitte. Auf einmal hörte sie diese drei Wörter wieder, die Rabea gesagt hatte. Die sie tatsächlich gesagt hatte. Völlig unerwartet.

Als hätte sie etwas aus dem Konzept gebracht. Dem Konzept, das ihr vorgab, sich nicht zu entschuldigen. Sich niemals zu entschuldigen. Denn so schätzte Alexis sie ein.

»Ich glaube, das weiß ich selbst nicht«, beantwortete sie nun endlich Rabeas Frage. »Ich dachte, ich wüsste es, aber . . .«, erneut zuckte sie die Schultern, »anscheinend tue ich das doch nicht.«

Langsam drehte Rabea sich zu ihr um, während sie bis jetzt in den Schrank gestarrt hatte, der innen als ein Spiegelschrank gestaltet war. Ein Barschrank, wie er in den Neunzehnhundertzwanzigerjahren modern gewesen war. Und sehr schick. Teuer.

Sie stützte einen Ellbogen in ihrer Hand ab, sodass das Glas, das sie in der anderen Hand hielt, zu der dieser Ellbogen die Verbindung darstellte, fast wie auf einem Tablett stand. In der Luft schwebend, ohne dass es tatsächlich schwebte.

»Da bist du nicht allein«, sagte sie. »Ich weiß es nämlich ganz bestimmt nicht.«

Sie nippte an dem Whisky, aber nur ganz wenig. Er konnte kaum ihre Lippen benetzt haben.

Der erste war ja aber auch schon eine ganze Menge gewesen. Alexis wäre davon vermutlich umgefallen. Sie war nicht sehr für Alkohol. Mal ein Gläschen Sekt vielleicht.

Deshalb fragte sie sich jetzt, ob Rabea regelmäßig trank, wenn sie so eine Stange Whisky pur auf einen Sitz vertrug und nicht die geringsten Anzeichen einer Wirkung zeigte.

Bisher hatte Alexis sie nicht so eingeschätzt, als ob sie zum Alkoholismus neigen könnte, aber sie hatte sich ehrlich gesagt auch noch nie Gedanken darüber gemacht. Warum sollte sie?

Rabea war für sie ein einziges Rätsel. Vielleicht weil sie einer anderen Generation angehörte als Alexis. Sie hätte mit Leichtigkeit ihre Mutter sein können.

Und wenn sie da an ihre eigene Mutter dachte, wie anders sie war . . . Da wunderte sie sich nicht sehr, dass Rabea ihr wie eine Art Mysterium erschien.

Sie, Alexis, hätte jetzt einfach gehen können. Im Grunde genommen wusste sie sowieso nicht, weshalb sie hier war. Und doch schien es, als hielte sie etwas hier fest. Etwas, das sie nicht benennen konnte.

»Immer noch keine Antwort gefunden?«, fiel Rabea mit einer Frage in ihre Gedanken ein, die Alexis ein wenig aufschrecken ließ. »Tja . . .« Erneut benetzte sie nur ihre Lippen mit dem Whisky. »Dann gibt es wohl keine.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, stimmte Alexis ihr zu, war mit dieser Zustimmung beziehungsweise der Aussage, die sie enthielt, jedoch sehr unzufrieden.

»Dann könnten wir uns vielleicht anderen Dingen zuwenden«, schlug Rabea vor. Sie hob ihr Glas leicht an. »Möchtest du auch einen Whisky?«

Heftig schüttelte Alexis den Kopf. »Nein, danke. Ich trinke so gut wie nie Alkohol.«

Rabeas Augenbrauen hoben sich. »Nie?«

»So gut wie nie«, wiederholte Alexis noch einmal. »Ein Gläschen Sekt zum Geburtstag oder so ist in Ordnung. Habe ich auch schon getrunken.«

Trocken lachte Rabea auf. »Dann findest du das, was ich hier gerade tue, wahrscheinlich nicht in Ordnung.«

Diesmal hob Alexis nur eine Schulter an und ließ sie wieder fallen. »Das ist deine Sache. Das geht mich nichts an.«

»Oh, oh, oh.« Rabeas Mundwinkel zuckten. »Da höre ich aber die Moralinkeule runtersausen.«

»Gar nicht.« Alexis hob beide Hände in die Luft. »Wirklich nicht. Meines Erachtens ist so etwas Privatsache. Solange es andere nicht betrifft.«

»Solange es andere nicht betrifft . . .«, wiederholte Rabea ihren Satz und schien dabei in Gedanken zu versinken. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Es betrifft andere nicht.« Und damit schüttete sie auch das zweite Glas mit einem Ruck in ihre Kehle hinunter wie das erste.

»Merkst du da denn nichts?«, fragte Alexis ehrlich erstaunt, ohne damit einen Vorwurf zu verbinden. »Das war schon das zweite.«

»Ach ja? War es das? Zählst du mit?« Rabea wirkte gereizt und schien erneut zur Flasche greifen zu wollen, um ihr Glas noch einmal zu füllen.

Irgendetwas geht da vor, dachte Alexis. Aber sie konnte sich nicht erklären, was. Dazu kannte sie Rabea zu wenig. War es ihre, Alexis’, Anwesenheit, die Rabea so aus dem Gleichgewicht brachte?

»Ich glaube, ich störe dich sehr«, hielt sie ihre Vermutung deshalb in einer Aussage fest. »Du willst nicht, dass ich hier bin. Es war ein Fehler herzukommen. Entschuldige bitte.«

Diesmal begab sie sich so schnell zur Tür, dass Rabea sie nicht festhalten konnte.

Aber ihre Stimme konnte sie noch erreichen. »Wolltest du Sex?«, fragte sie.

ENDE DER FORTSETZUNG

. . . aber nicht das Ende der Geschichte: Ab heute ist das Buch überall erhältlich.

Ruth Gogoll: Liebe ist das Letzte. ⯌ Eine Leseprobe in zwölf Teilen

1 »Hey! Können Sie nicht aufpassen?« Die großgewachsene und sehr schlanke junge Frau blickte...
Rabea schnappte nach Luft. Das war doch dieses . . . Scriptgirl! Das war sie jedoch offensichtlich...
Das allein war schon ein Grund, sich dieser Frau zu entziehen. Abgesehen davon, dass sich Rabea...
Eine Figur wie Alexis Savalas tat das jedoch nicht. »Ich liebe Trenchcoats. Pah!«, stieß Rabea...
Wollte diese Stimme in ihrem Kopf damit sagen, dass sie eine Figur war? Ein Serienkiller oder eine...
Natsuko . . . Rabea erinnerte sich an die kleine, geschmeidige Japanerin. Sie war sogar noch...
»Na gut.« Schicksalsergeben, wenn auch immer noch gereizt verschränkte sie die Arme. »Wenn ich...
Folgte sie ihr also nicht schon? Sie hatte sie sich ausgedacht, wenn sie akzeptierte, dass Chloe...
Aha. Suchend blickte Alexis sich um. Es gab also nicht nur eine Gegensprechanlage, sondern...
Alexis folgte ihr und war überrascht, wie hell das Zimmer war. Es war, als ob sich in diesem...
Mit den beiden Gläsern in der Hand ging sie in das zurück, was die Immobilienmaklerin beim Verkauf...
»Nein, ich –« Endlich konnte Rabea ihre Hand fallenlassen. Es war wie eine Befreiung, und dennoch...