Fast wäre Mariana in Ohnmacht gefallen. Das war wieder typisch ihre Mutter! Ihr kein Wort zu sagen und sie einfach so ins kalte Wasser zu werfen. Was sollte Mariana jetzt tun, hier mitten auf der Bühne? Nein, danke, ich will den Armen nicht helfen sagen und sie verlassen? Ihre Mutter hatte sehr gut gewusst, dass sie das niemals tun würde.
»Natürlich nicht endgültig und für alle Zeit«, schränkte da ihre Mutter schon mit einem verschwörerischen Blinzeln ein. »Nur für den nächsten Tanz. Also wer den ersten Tanz mit der Prinzessin des heutigen Balls –«
Nicht Königin, dachte Mariana. Niemals hätte ihre Mutter gesagt der Ballkönigin, denn das war sie selbst.
»– gewinnen will, muss sein Portemonnaie öffnen.« Amanda blinzelte erneut. »Weit öffnen«, ergänzte sie fordernd, lachte aber dabei, als wäre das nicht ernst gemeint. Was es hundertprozentig war.
»Zieh nicht so ein Gesicht«, zischte es da plötzlich von der Seite.
Das war die Frau von Marianas Onkel Adam, Abigail Peabody, die neben Mariana stand und vielleicht sogar noch ein kleineres Kirchenlicht im Kopf war als er. Dafür allerdings etliche, sehr viele, Jahre jünger. Adam Peabody hatte erst in höherem Alter geheiratet, weil ihn niemand haben wollte. Aber das hatte Abigail nicht gestört. Ihr lag nichts an Adam, nur an seinem Geld.
»Das ist eine große Ehre. Sei deiner Mutter dankbar dafür. Ich hätte mich sofort zur Verfügung gestellt. Aber du bist ja«, ein giftiger Blick traf Mariana, »wichtiger.«
Und für dich hätte auch niemand viel geboten, dachte Mariana teils bedauernd, teils auch tatsächlich ein wenig schadenfroh ihrer angeheirateten, kaum zehn Jahre älteren Tante gegenüber, obwohl Schadenfreude normalerweise kein Teil ihres Charakters war. Aber nach dieser Überraschung . . .
Ihre Mutter wusste, was Geld anging, immer genau, wo es langging. Wo am meisten zu holen war. Ohne Rücksicht auf Verluste. Geschweige denn auf die Bedürfnisse oder Gefühle ihrer Tochter.
»Wer fängt an?«, fragte die einflussreiche Mrs. Bradlee Fulton in den Saal hinein.
Sie warf noch nicht einmal einen Blick auf Mariana, um im Nachhinein doch noch ihr Einverständnis für diese reichlich absurde Farce, die auf Marianas Kosten ging, einzuholen. Das hatte Amanda Bradlee Fulton nicht nötig. Mariana hatte einfach zu gehorchen, egal was ihre Mutter sich ausdachte.
»Tausend Dollar!«, rief jemand aufgekratzt aus dem Saal herauf, als wäre das alles ein großer Spaß für ihn.
Was es vermutlich auch war. Nur für Mariana nicht.
Für ihre Mutter jedoch auch nicht. Strafend blickte sie den Bietenden an. »Wollen Sie mich und meine Tochter beleidigen? Dieses Gebot habe ich nicht gehört.«
»Zehntausend!«, rief der nächste.
»Das klingt schon besser.« Amandas Gesicht hellte sich auf. »Das ist doch mal ein Ausgangspunkt. Aber das reicht noch lange nicht.«
Das wussten die Anwesenden auch. Und wie viele Nullen an einer Zahl hingen, war ihnen sowieso egal. So viel Geld, wie sie hatten, interessierte sie das nicht.
Und so flogen die Zahlen hin und her, die jungen Männer machten sich ein Vergnügen daraus, sich gegenseitig zu überbieten.
Um sich nicht allzu sehr über all das hier zu ärgern, versuchte Mariana, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Aus langjähriger Erfahrung seit ihrer Kindheit wusste sie, dass den Weg des geringsten Widerstands zu gehen mit ihrer Mutter die einfachste Methode war. Nicht immer unbedingt die angenehmste, aber manchmal musste man das in Kauf nehmen.
Deshalb bekam sie fast nur am Rande mit, wie die Auktion, die sich um ihre Person drehte, abgeschlossen wurde. Erst als ihre Tante Abigail sie schmerzhaft in die Seite stieß, merkte sie, dass ein grinsender junger Mann vor ihr stand, der sie zum Tanz abholen wollte. Er hatte sie wohl ›gewonnen‹.
Unglücklicherweise war es genau derjenige, von dem sie sich das am wenigsten gewünscht hatte. Wenn sie sich etwas hätte wünschen können.
»Guy.« Sie wusste, dass sie ihren alten Feind hätte anlächeln sollen, aber dazu konnte sie sich nicht überwinden. »Du hast am meisten geboten?«
Guy Forbes’ Mundwinkel zuckten noch mehr als zuvor. »Die Familie Forbes ist die reichste in Boston. Und noch weit darüber hinaus. Niemand kann mit uns mithalten.«
»Ich erinnere mich«, erwiderte Mariana trocken. »Das hast du mir schon auf der Highschool erzählt.«
»Und daran hat sich nichts geändert.« Der junge Guy – sein Vater hieß auch Guy und wurde deshalb der alte Guy genannt – bestätigte das völlig humorlos.
Humor hatte er noch nie besessen. Und für sein Geld – von dem er keinen Cent selbst verdient hatte – schämte er sich gewiss nicht. Er fand es völlig selbstverständlich, dass nur das auf der Welt zählte. Und bedauerlicherweise hatte er damit wahrscheinlich sogar recht.
»Wollen wir?« Er hielt ihr seinen gebeugten Arm entgegen.
Aber im Gegensatz dazu, dass alle nun erwarteten, dass ihre Hand ganz von selbst und stolz in seine Armbeuge gleiten würde, zögerte Mariana.
Ein tadelnder Blick ihrer Mutter traf sie, und in den Augen ihrer Tante Abigail sah sie, dass sie es bedauerte, Mariana in diesem Moment nicht noch einen härteren Rippenstoß als eben schon versetzen zu können. Denn jetzt hätte es jeder gesehen. Abigail war eher für Heimlichkeiten hintenherum, bei denen sie sich dann bequem herausreden konnte, sie hätte gar nichts damit zu tun.
Von Wollen kann gar keine Rede sein, dachte Mariana also und »Sicher«, sagte sie. »Lass uns diesen Tanz hinter uns bringen.«
Mit stolzgeschwellter Brust führte Guy Forbes sie die paar wenigen Treppenstufen von der Bühne hinunter in den Ballsaal. Er fand natürlich, dass er den Tanz mit Mariana als Einziger verdient hatte. Jemand anderem hätte er ihn sowieso nicht gegönnt.
Nicht dass ihm speziell etwas an Mariana lag, aber das war einfach eine Frage der sogenannten Ehre. Einer Ehre, die Mariana noch nie verstanden hatte, denn sie bezog sich nicht auf eigene Leistungen, sondern nur auf das Geld und das Ansehen der Familie, der man entstammte. Der Vorfahren, die – vielleicht – etwas geleistet hatten, nicht aber auf die aktuell lebenden Mitglieder des Familien-Clans, der in diesen Kreisen als eine Art Dynastie betrachtet wurde.
So war es in Boston immer schon gewesen. Hin und wieder wurde eine Anekdote aus früheren Zeiten über einen jungen Mann erzählt, der sich vor ewigen Zeiten bei einer Firma in Chicago um einen Posten bewerben wollte. Dazu bat er einen Freund seiner Bostoner Familie um ein Empfehlungsschreiben.
Der war natürlich auch aus Boston und schrieb im Brustton der Überzeugung in den Brief, dass er den jungen Mann uneingeschränkt empfehlen könne. Seine Mutter sei eine Cabot, sein Vater ein Lowell und seine Vorfahren seien alle Peabodys, Appletons, Forbes und Saltonstalls gewesen. Diese Familien waren für jeden in Boston ein Begriff. Sie beherrschten die Stadt.
Die Chicagoer Firma antwortete höflich, dass sie eigentlich andere Informationen erwartete. ›Schließlich‹, so schrieben sie zurück, ›haben wir nicht vor, diesen jungen Mann für Zuchtzwecke zu verwenden.‹
Als Mariana daran dachte, musste sie fast offen schmunzeln und warf einen verstohlenen Blick auf den Mann an ihrer Seite. Guy Forbes hätte man wahrlich für Zuchtzwecke verwenden können. Er war ein ausgesprochen gutaussehender Mann, groß, breitschultrig und schmalhüftig mit welligen blonden Haaren und strahlend blauen Augen. Er trieb regelmäßig Sport, und das sah man ihm an. Die Schultern seines Fracks kamen wahrscheinlich ohne Schulterpolster aus.
Aber Aussehen war eben nicht alles. Oder eigentlich sogar das Unwichtigste.
»Ich kann verstehen, dass du froh bist, wieder in Boston zu sein.« Guy hatte Marianas Lächeln falsch interpretiert. »Wäre ich auch an deiner Stelle«, fuhr er fort, überzeugt davon, dass er mit seinen Vermutungen niemals falschliegen konnte. »In diesem unzivilisierten Kalifornien kann man doch nicht leben.« Er blieb stehen und öffnete seine Arme, um Mariana dazu aufzufordern, Tanzposition einzunehmen.