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Während sie die bergige Straße zum Strand hinunterlief, konnte Eleni das Wellenrauschen hören. Kurz zuckte sie zusammen und blieb stehen. Wollte sie wirklich hinunter zum Meer? Aber was sollte passieren? Es war ein absolut harmloser Sommertag und sie hatte den Strand an sich immer geliebt. Ihr Rückzugsort auf Kreta, wenn sie hatte allein sein wollen, wenn sie hatte nachdenken wollen. Die Weite hatte stets ihre Gedanken beflügelt.
Aber dann war alles anders gekommen . . .
Seit diesem Tag war sie nie wieder am Strand gewesen, hatte jegliche offene Gewässer vermieden.
Sie setzte sich wieder in Bewegung und schlug den Weg Richtung Westen ein. Etwas abseits vom Hauptstrand würde sie mehr Ruhe haben.
Vielleicht war es an der Zeit, es zumindest wieder zu versuchen. Sie musste dringend über einiges nachdenken. Im schlimmsten Fall konnte sie schließlich einfach umkehren.
Und doch hatte sie ein flaues Gefühl im Magen.
Am späten Nachmittag war nicht allzu viel los, dennoch wollte sie zu einem Strandabschnitt etwas abseits des Hotels. Sie wollte keinen Gästen über den Weg laufen, sie brauchte einfach etwas Ruhe.
Sie zog ihre Slipper aus. Aber der Sand unter ihren Füßen war so heiß, dass sie sie sofort wieder anzog.
Ungefähr zwanzig Meter vor dem Wasser blieb sie stehen, denn ihr Herz klopfte immer heftiger gegen ihren Brustkorb.
Aus der Entfernung beobachtete sie die Wellen, die sanft im Sand verliefen. Sie hielt die Luft an. Es war albern, und doch konnte sie sich gegen die aufkommende Panik nicht wehren. Langsam atmete sie weiter.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, genügend Abstand zum Meer zu halten. Der weiche Sand sank unter ihren Schritten leicht ein, ihre Schuhe hinterließen Spuren. Es war ein vertrautes Gefühl, ein Gefühl ihrer Kindheit, vieler Stunden am Strand.
Mit jedem Schritt wurde es etwas leichter, mit jedem weiteren Fußabdruck beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Nur zum Wasser wollte sie nicht. Konnte einfach nicht.
Sie war nie wieder ins Meer gegangen, selbst ins Freibad hatte sie sich nicht mehr getraut. Und dass, obwohl sie früher das Schwimmen immer geliebt hatte, ihre Eltern sie kaum aus den Fluten herausholen konnten. Alles hatte sich nach diesem schicksalhaften Tag verändert.
Als sie einige Meter gelaufen war und weit und breit keine Hotelgäste oder andere Menschen mehr in Sicht waren, holte sie ihr Handy hervor und wählte die Nummer ihrer Eltern. Sie hatte sich bisher nur einmal kurz bei ihnen gemeldet, als sie angekommen war. Ganz sicher warteten sie schon sehnsüchtig auf einen Bericht.
»Jassu, Mama. Hallo.« Es hatte keine zwei Freizeichen gedauert, bis ihre Mutter abgehoben hatte.
»Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir? Wie ist die Arbeit? Wie gefällt es dir auf Kreta?« Fragen über Fragen prasselten auf Eleni ein.
»Mir geht es gut. Aber es ist viel zu tun.«
»Machst du denn auch mal frei?«, fragte ihre Mutter besorgt.
»Natürlich. Jetzt zum Beispiel, ich stehe gerade am Strand von Triopetra.« Dass sie bis gerade eben gearbeitet hatte und das an ihrem eigentlich freien Tag, verschwieg sie lieber. Sie wollte ihre Mutter nicht beunruhigen. Sie schloss die Augen und genoss die sanfte Brise, die ihr ins Gesicht wehte.
»Ach, da wäre ich auch so gern. Einer meiner Lieblingsplätze, auch wenn sich so viel verändert hat. Hast du Kreta nicht all die Jahre vermisst?«
Eleni seufzte. Wie oft hatte sie mit ihren Eltern darüber gesprochen. Sie wollten sie einfach nicht verstehen. Sie wollten nicht verstehen, dass sie das Geschehene nicht abhaken und zum Alltagsleben übergehen konnte.
Als hätte ihre Mutter Elenis Gedanken gelesen, fügte sie hinzu: »Du musst dich endlich deiner Vergangenheit stellen und mit ihr Frieden schließen. Du kannst nicht mehr ändern, was passiert ist. Du stehst deinem zukünftigen Glück nur im Weg.«
»Ich bin sehr glücklich«, sagte Eleni trotzig. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Sie starrte auf das Meer. Die Wellen rollten sanft auf sie zu, die Oberfläche glitzerte in der Sonne. Noch immer übte das Wasser eine gewisse Faszination auf sie aus. Trotz allem, was passiert war. Das konnte sie nicht leugnen.
»Wie du meinst. Lass uns nicht darüber streiten«, beendete ihre Mutter das Thema.
Sie plauderten noch ein paar Minuten über Elenis Vater und ihre Geschwister, und was sich in ihrer Heimatstadt Wuppertal in den letzten Wochen ereignet hatte.
Eleni legte auf und steckte ihr Handy in die kleine Umhängetasche. Mit einem Mal übermannte sie die Müdigkeit, sie fühlte sich erschöpft, auch wenn sie das normalerweise nie zugeben würde. Erschöpft vom Gespräch mit ihren Eltern, von der Arbeit, von all den neuen Eindrücken.
»Was machst du denn hier? Was für eine Überraschung.«
Eleni drehte sich um und sah geradewegs in Johannas strahlendes Gesicht.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht einfach duzen.« Johanna schlug sich eine Hand vor den Mund. »Es ist mir einfach so herausgerutscht. Tut mir leid.«
Mit ihren erschrockenen weit aufgerissenen Augen sah sie richtig süß aus. »Ach, kein Problem.« Eleni lächelte. »Kann ja mal passieren.« So vertraut sie mit Johanna auch in ihren Gedanken teilweise war, sie wusste, dass es definitiv eine wichtige Grenze überschreiten würde, würde sie Johanna jetzt das Du anbieten. »Genießen Sie auch Ihren freien Tag in der Natur?«, versuchte sie deshalb, das Gespräch direkt in eine unverfängliche Richtung zu lenken.
»Es ist wirklich wundervoll hier«, schwärmte Johanna.
»Ja, das ist es. Das Meer auf der einen Seite, die Berge auf der anderen.« Eleni seufzte. »Kein Wunder, dass die Einheimischen gegen den Bau des Hotels waren. Dass sie nicht wollten, dass die noch recht ursprüngliche Natur zerstört wird.« Sie wusste selbst nicht, warum ihr das auf einmal herausrutschte.
»Das kann man ja in gewisser Weise auch verstehen«, sagte Johanna. »Auf der anderen Seite bietet so ein Hotel doch auch viele Vorteile für die Einheimischen, oder nicht?«
Eleni zuckte mit den Schultern. »Na ja, so ein paar Arbeitsplätze haben die Nachteile nicht aufgewogen«, erklärte sie. »Außerdem verlassen All-inclusive-Gäste das Hotel meistens nicht. Da machen kleine Händler und Tavernen kein Geschäft.«
In den letzten Tagen hatte sie jede Menge über den Widerstand der Bevölkerung gelesen, der den Bau des Hotels vor zwei Jahren erheblich gefährdet hatte. Aber letztlich hatte am Ende wohl doch das Geld gesiegt. Wer dafür von wem bestochen wurde, wollte Eleni lieber nicht wissen.
»Ja, leuchtet ein.« Johanna nickte.
Elenis Blicke schweiften über den Küstenstreifen mit dem Hotel in der Ferne. »Es hat sich wirklich sehr viel verändert. Meine Mutter würde die Gegend kaum wiedererkennen.«
Kurz schwiegen sie beide, dann fragte Johanna: »Waren Sie früher schon mal hier?«
Sofort bereute Eleni, dass sie so eine private Andeutung gemacht hatte. »Ja, ist aber schon lange her«, erwiderte sie daher knapp.
Das Gespräch schien an einem toten Punkt angekommen. Johanna bemerkte das wohl ebenfalls, denn sie wandte sich ab. »Also, ich war auf dem Weg zurück ins Hotel. Aber Sie wollen ja sicher noch bleiben.«
Eleni nickte. »Ja, ich brauche mal ein bisschen Zeit für mich, um nachzudenken, den Kopf freizubekommen, und was könnte es dafür für einen besseren Ort geben?«
»Dann will ich Sie gar nicht länger aufhalten. War schön, mit Ihnen zu plaudern.«
»Gleichfalls.«
An diese direkte und offene Art von Johanna musste Eleni sich erst gewöhnen. Dass jemand ohne Umschweife aussprach, was er dachte, kannte sie bisher nicht.