»Das stimmt.« Johanna drückte Eleni ein Glas in die Hand, das sie gerade ergattert hatte. »Ich bin Johanna Henk, Tänzerin und Animateurin hier. Aber das haben Sie ja vorhin schon gesehen.« Sie zwinkerte Eleni zu, die merkte, wie sie rot anlief. »Ich muss leider schon wieder los, auch wenn ich sehr gern noch ein bisschen mit Ihnen plaudern würde. Gleich ist die Gästeparty.«
»Was halten Sie davon, wenn Sie dafür morgen früh um elf Uhr in mein Büro kommen? Dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten.« Eleni wurde heiß. Hatte sie das gerade eben wirklich gesagt? Hatte sie Johanna tatsächlich zu sich eingeladen? »Also, zum Mitarbeitergespräch«, fügte sie daher stammelnd hinzu. »Dazu wird die nächsten Tage jeder eingeladen.«
Kleine Grübchen bildeten sich auf Johannas Wangen. »Sehr gern. Ich werde direkt nach meinem Yogakurs kommen. Vielleicht wird es fünf Minuten später. Der Kurs geht bis fünf vor elf.« Sie prostete Eleni zu. »Dann noch einen schönen Abend und bis morgen. Ich freue mich.«
Ehe Eleni etwas erwidern konnte, verschwand Johanna in der Menge.
Die griechische Sonne musste ihr das Hirn vernebelt haben. Oder der Sekt. Sie nahm einen weiteren Schluck. Jetzt war es ohnehin zu spät.
5
Die Zahlen verhießen nichts Gutes. Überhaupt nichts. Eleni starrte auf die geöffnete Exceltabelle und verglich sie mit den Papierausdrucken, von denen sie die Werte weitestgehend übernommen hatte. Die Buchführung war in jedem Fall optimierbar, bisher war alles in verschiedenen Dateien und Ordnern verstreut. Kein Wunder, dass der geschasste Chef keinen Durchblick mehr gehabt hatte.
Zwar hatte man ihr erklärt, dass der Club eine neue Leitung benötigte, da zuletzt die Bilanzen immer schlechter geworden waren. Aber dass die Buchungszahlen so weit in den Keller gegangen waren, das hatte man ihr verschwiegen. Ebenso wie die unzähligen Beschwerden der Kunden.
Natürlich hatte Eleni auf den einschlägigen Bewertungsportalen gesehen, dass auch hier in den letzten Monaten die Meinungen zunehmend ins Negative tendierten. Und es gab unzählige Kunden, die direkt beim Konzern ihren Unmut über den brandneuen Club kundgetan hatten. Nicht mal einem Jahr nach der Eröffnung war dem ehemaligen Hotelmanager bereits alles entglitten.
Dazu kam, dass auf der anderen Seite die Kosten zunehmend gestiegen waren. Natürlich war Eleni bewusst, dass alles empfindlich teurer geworden war. Egal ob die Kosten für Energie, die Kosten für Lebensmittel und natürlich auch für das Personal. Dennoch überstiegen die Zahlen das Erwartete erheblich. Eine Preissteigerung in diesem Maße musste hinterfragt werden, Eleni musste den Gründen genauer auf den Grund gehen.
Sie kaute auf dem Rotstift herum. Es würde deutlich mehr Arbeit auf sie zukommen, als sie erwartet hatte. Sollte sie das wirklich angehen oder jetzt noch einen Rückzieher machen? Die miserable Bilanz war eindeutig ein weiteres Argument, das gegen ihre Anwesenheit auf dieser Insel sprach. Warum hatte sie das Angebot nur angenommen? Sie griff nach ihrer Kaffeetasse. Sie hätte ihrer Intuition vertrauen sollen.
Ein Klopfen an ihrer Tür ließ sie zusammenzucken. Der Kaffee schwappte bedrohlich nah an den Rand. »Ja, bitte?«
Erst in der Sekunde, als ihre Sekretärin die Tür einen Spalt breit öffnete, fiel ihr ihr Termin wieder ein. Die Zeit war so rasant vergangen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass es bereits elf Uhr war.
»Frau Henk sagt, Sie hätte heute einen Termin bei Ihnen«, sagte Dionysia.
»Ja, entschuldigen Sie, das habe ich ganz vergessen, Ihnen heute Morgen mitzuteilen.«
Dionysia öffnete die Tür weiter, sodass Johanna hindurchschlüpfen konnte.
Gedanklich machte sich Eleni eine Notiz, dass sie mit Dionysia besprechen würde, Besuche telefonisch anzukündigen. Dann musste ihre Sekretärin nicht jedes Mal ihren Arbeitsplatz verlassen.
Johanna hatte ihre Haare mit einem Stirnband gebändigt und trug für Elenis Konzentration eindeutig zu enge Sportklamotten.
Ach ja, der Yogakurs, erinnerte sie sich.
»Setzten Sie sich doch«, fand Eleni zu ihrer Professionalität zurück. »Möchten Sie etwas trinken?«
Johanna nickte. »Ja gern, ein Wasser vielleicht.«
Eleni griff nach dem Telefon und bat Dionysia, zwei Gläser Wasser zu bringen.
Immerhin hatte Eleni am Morgen daran gedacht, Johannas Personalakte herauszusuchen. Dass auch das eigentlich Aufgabe ihrer Sekretärin war, musste sie noch verinnerlichen. So einen Komfort war sie bisher nicht gewöhnt.
Nun schlug sie den dünnen Hefter auf. Digitalisierung war in diesem Club in weiten Teilen ein Fremdwort. »Ich habe gesehen, dass Sie hier fast genau so neu sind wie ich. Erst vor drei Wochen gekommen.«
»Ja, das stimmt.« Johanna schlug die Beine übereinander. »Auch wenn es mir schon wie eine Ewigkeit vorkommt.«
Eleni überflog die weiteren Zeilen des Lebenslaufs. Wie hatte sie nur so nachlässig sein können? Warum hatte sie nicht alles vorab studiert? Unvorbereitet in ein Gespräch zu gehen war ganz und gar nicht ihre Art. »Jetzt müssen Sie mir aber mal erklären, wie eine Frau mit Ihren beruflichen Qualifikationen und Ihrem Werdegang in einem Club als Animateurin landet. Das ist ja wie ein Sechser im Lotto für uns.«
Johanna lächelte, aber ihre Augen blieben ausdruckslos. Offensichtlich keine Frage, die sie gern hörte. »Es war eine ziemlich spontane Entscheidung.« Sie verknotete ihre Finger ineinander. »Private Gründe.«
In diesem Moment brachte Dionysia das Wasser.
Als ihre Sekretärin das Büro wieder verlassen hatte, wiederholte Eleni: »Private Gründe.« Sie wartete, ob noch mehr von Johanna kam, doch die fixierte wie gebannt die Hände in ihrem Schoß.
In diesem Moment wirkte sie so ganz anders als am gestrigen Tag. Die Energie, die sie bei ihrem Kurs versprüht hatte, die flirtende Art gestern Abend, waren mit einem Mal verschwunden. Eleni spürte den Drang herauszufinden, was sich dahinter verbarg, welches Geheimnis Johanna hatte. Aber sie spürte auch, dass sie momentan auf diese Fragen keine Antwort erhalten würde.
»Tanz-Studium an der Folkwang Universität der Künste, Athletiktrainerin und Mit-Choreografin am Bundesstützpunkt Eislaufen, zuletzt noch eine Ausbildung zum Mental Coach. Wirklich beeindruckend. Die Ausbildung zum Fitnesstrainer B will ich gar nicht erst erwähnen. Langweilen Sie sich hier nicht?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Es gibt sehr viel zu tun. Die Arbeit ist sehr abwechslungsreich. Die Sportkurse, die Bühnenshows und selbstverständlich der Kontakt zu den Gästen.«
Eleni musste schmunzeln. Johannas Worte klangen wie in einem Bewerbungsgespräch. Und wahrscheinlich war es das für Johanna auch in gewisser Weise. »Ich denke, wir können uns mehr als glücklich schätzen, eine so überaus qualifizierte Mitarbeiterin in unserem Team zu haben.« Sie suchte Johannas Blick, und als sie ihn endlich fand, begannen auch Johannas Augen wieder zu strahlen.
»Danke für das Kompliment und das Vertrauen. Ich werde mein Bestes geben.«
Ein vergessenes Kribbeln breitete sich in Elenis Magengegend aus. Was war das? Sie konnte sich kaum von Johannas Augen lösen. Etwas an Johanna zog sie in ihren Bann. Es war nicht nur das Äußerliche, nicht nur die kurzen blonden Haare, die grünen Augen, die zierliche und sportliche Figur. Ohne Frage war Johanna absolut ihr Typ.
Nein, es war etwas anderes. Eleni wollte hinter Johannas Fassade blicken, ergründen, was in dieser Frau vor sich ging.
Doch das war keine gute Idee. Sie hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen und damit mehr als genug Probleme. Gefühle zu entwickeln, stand sicher nicht auf ihrer Agenda.
Mit ihrem Finger fuhr Eleni die Zeilen des Lebenslaufs erneut ab, als könnte sie das von dem plötzlichen Herzklopfen ablenken.