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Eleni atmete einmal tief durch, ehe sie ihren Gurt löste. Jetzt war sie also hier. In Heraklion. Zurück auf Kreta. Zurück auf der Insel, die sie niemals wieder betreten wollte.
Sie quetschte sich aus ihrer Sitzreihe und fischte ihren kleinen Koffer aus der Handgepäckablage. Alle anderen hatten das Flugzeug bereits verlassen, als sie als Letzte auf die Treppe trat. Heiße, stickige Luft umfing sie. Sie roch die vertraute Mischung aus Meersalz und Kerosin, die so typisch für den Flughafen der Inselhauptstadt war.
Leichte Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, für Mitte Juni war es sehr warm. Ihre Finger klammerten sich um den Griff ihres Koffers. Bei jedem Schritt die Treppe zum Rollfeld hinunter drohten ihre Beine nachzugeben.
Ein Bus brachte sie mit den anderen Touristen zum Flughafengebäude. Sofort fielen Eleni dort die vertrauten griechischen Buchstaben auf. Lange hatte sie ihre zweite Muttersprache nicht mehr gesprochen. Erst als klar war, dass sie die Leitung des Ferienclubs an der Südküste in Triopetra übernehmen würde, hatte sie ihre Griechischkenntnisse wieder aufgebessert. Denn dass sie Halbgriechin war, war einer der hauptsächlichen Gründe gewesen, warum man ihr die Stelle als neue Hotelmanagerin angeboten hatte.
Obwohl noch keine Hochsaison war, war es bereits jetzt schon sehr voll an den zu wenigen Gepäckbändern für die immer zahlreicher anreisenden Touristen. Kein Wunder, dass es bald einen neuen Flughafen auf Kreta geben sollte.
Eleni zwängte sich durch die Menschenmenge nach vorn in die erste Reihe, als sie ihren Koffer auf dem Band auf sich zukommen sah. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, ihr Herz raste. Das Stimmengewirr der aufgekratzten Urlauber dröhnte in ihren Ohren.
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren.
War es die richtige Entscheidung gewesen, herzukommen und den Job anzunehmen? Hätte sie nicht besser in ihrem vertrauten Club in Österreich bleiben und das großzügige Angebot ausschlagen sollen? Hätte sie nicht doch ihrem ersten Impuls vertrauen sollen?
Die Umgebung drehte sich, der Boden unter ihren Füßen schwankte. Was tat sie hier? Sie musste von allen guten Geistern verlassen sein.
Einatmen. Ausatmen.
Hätte sie doch bloß darauf beharrt, die Stelle abzulehnen, anstatt sich von ihrem Chef, ihrer Familie und ihrer besten Freundin bequatschen zu lassen.
Ihr roter, prall gefüllter Koffer kam immer näher. Sie versuchte, ihn zu fokussieren.
Mit ihren dreiunddreißig Jahren und der recht wenigen Berufserfahrung war es eine einmalige Chance, dass der Konzern sie mit der Leitung des erst im Jahr zuvor eröffneten Clubs betrauen wollte. So eine Gelegenheit gab es nicht alle Tage. Dass sich der Club ausgerechnet auf Kreta befand, hatte man ihr erst mitgeteilt, als sie schon beinahe zugesagt hatte. Im ersten Überschwang ihrer Euphorie hatte sie dieses entscheidende Detail gar nicht richtig mitbekommen. Ihren plötzlichen Rückzieher wollte dann niemand mehr akzeptieren. Aber wie auch? Natürlich wusste niemand, warum sie nicht mehr nach Kreta wollte.
Nicht mehr nach Kreta konnte.
Eleni griff nach ihrem Koffer und zerrte ihn vom Band. Er prallte gegen ihr Schienbein. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie. Das würde einen ordentlichen blauen Fleck geben.
Jetzt war sie also hier auf der Insel. Nach vielen schlaflosen Nächten und endlosen Diskussionen, auch mit ihren Eltern, hatte sie die Stelle doch angenommen. Und nun musste sie das Beste daraus machen. Sie würde sich in die Arbeit stürzen, ganz egal, ob das Hotel auf Kreta lag. Es würde sie ablenken.
Mit einem Koffer in jeder Hand ging sie unter dem großen Schild, das den Ausgang markierte, hindurch. Dahinter standen diverse Taxifahrer und Autovermietungen, die auf Pappschildern die richtigen Gäste suchten. Auf einem dieser Schilder entdeckte Eleni ihren Namen. Sie winkte dem grauhaarigen Mann zu und bahnte sich durch das Gewusel den Weg.
»Jassas, hallo«, begrüßte sie den Mann freundlich.
»Ah, Sie sprechen Griechisch«, freute sich der Taxifahrer. Er lächelte breit. »Mavridakis.« Er tippte auf das Schild mit Elenis Nachnamen. »Hätte ich mir denken können. Kretische Wurzeln?«
Eleni wusste, dass ihr Name die typisch kretische Endung trug, die vermutlich durch die türkische Besatzung damals allen Bewohnern angehängt wurde – als Verniedlichungsform. Um sie klein zu machen, ihren Stolz zu brechen.
Als sie dem Taxifahrer nicht antwortete, sagte er: »Kommen Sie.« Er nahm ihr den großen Koffer ab und Eleni folgte ihm mit ihrem Handgepäck.
Vor dem Gebäude schlängelten sie sich zwischen den unzähligen Ankommenden und Abreisenden hindurch. Es grenzte an ein Wunder, dass am Ende des Tages alle Reisenden in diesem Chaos an ihr Ziel kamen. Die Tourismusbranche auf Kreta boomte. Es war keine Überraschung, dass immer mehr große Hotels entstanden.
»Sie sind nicht das erste Mal auf Kreta, oder?«, riss der Taxifahrer Eleni aus ihren Gedanken und versuchte es erneut mit etwas Small Talk. Er sprach weiter Griechisch mit ihr, der kretische Akzent klang zu vertraut in Elenis Ohren.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht.«
Der Taxifahrer öffnete den Kofferraum seines Wagens, den er abenteuerlich zwischen den anderen Autos auf dem viel zu kleinen Parkplatz geparkt hatte. Er wuchtete beide Koffer hinein. »Für eine Griechin sind Sie aber nicht besonders gesprächig.« Er grinste.
»Halbgriechin«, korrigierte Eleni ihn. Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, ich muss erst mal richtig ankommen. Das war eine anstrengende Reise.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Wollen Sie ein Wasser? Ich bin übrigens Stavros.« Er hielt ihr eine gekühlte Flasche stilles Wasser entgegen, die er aus einer Kühlbox in seinem Kofferraum geholt hatte.
»Eleni.« Sie nahm Stavros die Flasche ab. »Danke.« Ihre Finger wischten über das feuchte Etikett. Zaros stand darauf. Das Wasser aus einer der Quellen im Gebirge. Und ein stiller Ort mit einem schönen See, den ihre Mutter liebte. Dahin hatte sie sich immer gern zurückgezogen, wenn sie mal ihre Ruhe gebraucht hatte.
Sie nahm einen großen Schluck. Wenn jemand behauptete, Wasser würde nicht schmecken, würde Eleni ihm widersprechen. Dieses Wasser schmeckte wie Nachhausekommen. Auch wenn es nicht mehr ihr Zuhause war.
Stavros ließ sein Fenster herunter und startete den Motor. Dann pfiff er laut. »Hey«, rief er einem Kollegen zu, während er hektisch mit seinem linken Arm aus dem Fenster winkte. »Mach mal Platz.« Einige lautstark ausgetauschte Worte später, die für Leute, die kein Griechisch verstanden, wie ein Streit geklungen haben mussten, manövrierte er das Taxi geschickt auf die Straße.
Wenig später bogen sie auf die Nationalstraße 90 ein. Die Straße im Norden von Kreta, die irgendwann von der sich im Bau befindlichen Autobahn Aftokinitodromos 90 ersetzt werden soll. Das und alles zum Bau des neuen Flughafens hatte Eleni vor ihrem Abflug nachgelesen, beides waren wichtige Faktoren, um auch den Tourismus auf der Ferieninsel weiter zu stärken.
»Machst du hier Urlaub?« Übergangslos wechselte Stavros ins Du.
Wieder schüttelte Eleni den Kopf. Doch dieses Mal fügte sie hinzu: »Ich werde hier arbeiten.« Sie bewunderte die unzähligen weiß und rosafarben blühenden Oleanderbüsche, die die Straße säumten. »In dem Hotel, in das wir fahren.«
»In einem dieser großen Bunker?« Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. »So wichtig der Tourismus ist, aber diese überdimensionierten Anlagen zerstören unsere kostbare Natur.« Er schnalzte mit der Zunge. »Schau dir nur hier die Küste an. Ein Ferienort neben dem anderen.« Sein Blick verdüsterte sich. »Und gerade dort in Triopetra, wo dein Hotel steht, gab es sehr großen Widerstand gegen den Bau des Hotels.« Er beschleunigte und überholte eine Reihe von Lieferwagen, die in Deutschland dem Aussehen nach niemals durch den TÜV gekommen wären.